Das Geheimnis unter dem Parkettboden
Beschwerden entschlüsseln: Warum das Verstehen von Patientenperspektiven wichtig ist

Das Geheimnis unter dem Parkettboden

Reflexionen
Ausgabe
2024/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2024.1393361578
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2024;24(04):111-112

Affiliations
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH

Publiziert am 10.04.2024

Es ist Mittwoch, der 13. Juli 2016.
Kaum habe ich meinen Motorroller im Hof hinter dem kleinen Gebäude geparkt und meinen Helm abgenommen, fühle ich mich schon beobachtet. Die Frau im sechsten Stock steht auf ihrem kleinen Balkon. Sicherlich schaut sie auf ihre Uhr. Mit meinem alten Arztkoffer gehe ich zum Hauseingang und suche nach dem Code für die Haustür. Auf dem Boden neben der Wohnungstür stehen gut sichtbar blaue Plastikpantoffeln. Als ich an der Tür klingle, deutet mir eine gut gekleidete Frau, in den Fünfzigern die Hausschuhe. Ich protestiere kleinlaut, es habe nicht geregnet, meine Schuhe seien sauber, aber ich weiss, dass es sinnlos ist zu widersprechen. Frau Mulot lässt mich eintreten und führt mich direkt in die Küche, wo sie einen Flüssigseifenspender aufgestellt hat, damit ich mir die Hände waschen kann. Der Wasserhahn ist mit einem Waschlappen abgedeckt, um eine Kontamination zu vermeiden. Mit einem frischen Handtuch trockne ich mir unter dem wachsamen Blick von Frau Mulot die Hände. Nach dieser Dekontaminationsprozedur kann ich in Richtung Schlafzimmer, Büro, dem strategischen Raum der Wohnung, weitergehen. Es ist 14 Uhr und Frau Mulots Lebensgefährte Louis, 68, hat es sich im Pyjama im Doppelbett bequem gemacht und begrüsst mich mit einem breiten Lächeln, das sich von der strengen Miene seiner Partnerin abhebt. Auf seiner Seite des Bettes steht ein Nachttisch, beladen mit Taschentüchern, Sprays und Inhalatoren. Neben dem Bett erblicke ich einen Mülleimer voller Papiertaschentüchern. Pauline Mulot zeigt auf den Mülleimer: «Louis ist immer noch erkältet, obwohl es Sommer und heiss ist. Ich halte die Fenster geschlossen, damit er nicht den ganzen Staub und die Pollen von draussen einatmet.» «Aber», frage ich arglos, «kommt Louis ab und zu aus der Wohnung heraus?» «Ich habe Schwierigkeiten beim Gehen«, verteidigt sich der Patient, «mit meinen Gleichgewichtstörungen könnte ich auf dem Boden landen.» Es stimmt, dass sein Gleichgewicht nach dem Schlaganfall, der sich als Folge von Bluthochdruck, Rauchen und der Einnahme von Antabus ereignet hat, gestört ist. In Absprache mit Louis und seiner Lebensgefährtin konnte ich eine Antabus-Behandlung einleiten, da er schwer alkoholabhängig war, was mit Gewalttätigkeit, Wutausbrüchen und Drohungen mit einem Küchenmesser einherging.
«Also, was machen Sie gegen seine Erkältung?», fragt mich Frau Mulot. Ich möchte Louis untersuchen und gehe nach vorne, um mich auf den Bettrand zu setzen. «Nein, nein», ruft die Lebensgefährtin, «erst müssen wir ein Laken über das Bett ziehen, sonst können Sie sich nicht hinsetzen!» Bei der Auskultation sind Anzeichen eines Emphysems feststellbar, das allerdings bekannt ist, sonst ist alles normal.
Nun, was kann man gegen diese chronische Rhinitis tun? Die Bluttests haben zwar eine Allergie gegen Staub und Gräser ergeben, aber in dieser Wohnung ist alles tadellos. Selbst mit einer Lupe wäre kein Staubkorn erkennbar. Der frisch gewachste Parkettboden ist glatt wie eine Eisbahn und ich kann verstehen, dass Louis Angst hat, aufzustehen und hinzufallen. Sogar ich gehe mit kleinen Schritten um nicht auszurutschen.
«Hier ist so viel Staub, jeden Tag muss ich staubsaugen und den Parkettboden zweimal putzen, es hört nie auf. Ausserdem kommt es mir vor, als käme so etwas wie Weizenkörner aus dem Boden», beschwert sich Pauline. Verrückt, denke ich, eine besessene Person, es wird immer verrückter. Ich frage sie, ob sie wirklich Weizenkörner auf dem Boden gesehen hat und lasse sie meine Skepsis ein wenig merken. Der Parkettboden ist alt, aber gut gepflegt, an einigen Stellen mit kleinen Abständen zwischen den Dielen. Sie besteht darauf. Ich frage sie: «Haben Sie zufällig einen Schraubenzieher?», und schaue auf die Uhr, weil ich einen Termin im Altersheim habe. Sie geht in die Küche und kommt mit dem Werkzeug zurück.
Ich möchte den Besuch rasch hinter mich bringen, denn ich habe genug von dieser verrückten Geschichte, von dem Wahnsinn, der in dieser Wohnung schwebt. Wie kann ich überprüfen ob sich etwas unter dem Parkettboden befindet? Mit dem Schraubenzieher beginne ich, die Schwelle der Tür zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer abzuschrauben. Das ist gar nicht so einfach, denn es ist «Jahrhunderte» her, dass jemand diese Schrauben zuletzt bewegt hat. Aber nach und nach geben sie nach, ich schaffe es, die Holzschwelle abzuheben und entdecke zu meinem Erstaunen, dass sich anstelle einer herkömmlichen Glaswollisolierung unter dem Parkettboden ein mindestens 5 bis 6 cm tiefes Meer von Weizenkörnern ausbreitet. Wie ist das möglich, wie konnte man diese Weizenkörner als Dämmstoff verwenden? Man brauchte eine gigantische Menge davon, um alle Hohlräume unter dem Parkett der Wohnung zu füllen.
Wir betrachten dieses Gewirr von Querstreben, das Räume bildet, die mit einer Isolierung aus einem anderen Zeitalter gefüllt sind. «Jetzt sehen Sie, dass ich recht habe», ruft Frau Mulot. Ich bleibe auf den Knien und betrachte das Desaster. «Ja, Madame, Sie haben völlig recht, und ich entschuldige mich dafür, dass ich Ihnen nicht geglaubt habe.» Alles ist nun klar, die chronische Rhinitis, der Husten, die Asthmaanfälle, aber wer hätte sich so etwas vorstellen können. Sie bringt mir eine Plastiktüte, in die ich die Weizenkörner fülle. Ich frage mich, ob sie keimfähig sind, und stelle mir ein wunderschönes Weizenfeld vor, das von einer leichten Brise gewiegt wird. Die Türschwelle muss wieder festgeschraubt werden und ich schaue auf die Uhr, denn ich bin nun wirklich spät dran.
«Was werden Sie jetzt tun?», fragt Frau Mulot. Nach einiger Überlegung antwortete ich: «Louis sollte die gleiche Behandlung fortsetzen, ausserdem möchte ich ihm ein anderes Antihistaminikum geben, bis wir eine Lösung für das Problem mit dem Parkett gefunden haben. Wenn man ein paar Mäuse unter den Parkettboden aussetzen würde, wäre das ein Festmahl für sie, und sie würden sich schnell vermehren.» Sie ist von dieser Idee überhaupt nicht begeistert. «Danach müsste man eine Schlange, eine Natter anschaffen, um die Mäuse zu vertilgen.» Sie hat Angst vor Schlangen und findet, dass ich absurd daherrede, aber die Situation ist ja auch völlig absurd.
Die Hausverwaltung muss über diesen Fund unter dem Parkettboden informiert werden. «Aber ich habe die Verwaltung schon wegen des Staubs angerufen, sie glauben mir nicht», erklärt Frau Mulot und fährt fort: «Bitte schreiben Sie ihnen.» Ich weiss, dass es sinnlos ist, nich auf ihre Bitte zu reagieren. «Gut, ich werde schreiben und die Hausverwaltung informieren, wenn Sie mir die Adresse und den Namen der Person mitteilen, die für Ihr Haus zuständig ist.»
Wir verabschieden uns im Guten, alle drei sind wir zufrieden: Erstens hatte Pauline Mulot völlig Recht, dass der Staub in der Wohnung von unterhalb des Parkettbodens kam. Zweitens ist Louis glücklich, weil seine Symptome einen konkreten Ursprung haben und «sie nicht nur in seinem Kopf existieren». Drittens gehe ich zufrieden als «Held» fort, froh, die Erklärung für Louis‘ mysteriöse Erkältung und den Staub in der Wohnung gefunden zu haben, allerdings sauer über die neue Last, die Situation erklären und mich mit der Hausverwaltung abmühen zu müssen.
Der Patient bzw. die Patientin hat nicht immer recht, aber wenn er bzw. sie sich beschwert, lohnt es sich zu versuchen, das Warum zu verstehen, auch wenn man auf den ersten Blick nicht das ganze Problem begreift.
j.roffler[at]hin.ch
Dr. med. Jakob Roffler