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Benzodiazepin-Intoxikation: Ein Hypnotikum-Toxidrom

Fortbildung
Ausgabe
2021/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10355
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(06):191-193

Affiliations
Tox Info Suisse, Assoziiertes Institut der Universität Zürich, Zürich

Publiziert am 02.06.2021

Benzodiazepine und Nicht-Benzodiazepin-Agonisten (Z-Medikamente: Zolpidem, Zopiclon) gehören auf Grund ihres breiten Indikationsgebietes zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten. Diese Substanzen werden oft überdosiert oder in missbräuchlicher Absicht konsumiert.

Tox Info Suisse erhält jährlich rund 1000 Anfragen zu Überdosierungen mit Benzodiazepinen und Z-Substanzen beim Menschen. Neun von zehn Betroffenen sind ­Erwachsene. In rund der Hälfte aller Anfragen liegt eine Kombinationsintoxikation vor (Benzodiazepin oder Z-Substanz toxikologisch im Vordergrund). Auf Grund der grossen therapeutischen Breite haben reine Benzodiazepin-Intoxikationen bei guter medizinischer Betreuung in der Regel eine günstige Prognose, jedoch bergen Kombinationsintoxikationen und die Antagonisierung der Benzodiazepinwirkung gewisse Risiken [1].

Wirkmechanismus und Pharmakokinetik

Alle Benzodiazepine enthalten einen bizyklischen Grundkörper, bei welchem ein Benzol- mit einem Diazepinring verbunden ist. Benzodiazepine binden an GABAA-Rezeptoren, die wichtigsten inhibitorischen Rezeptoren im Zentralnervensystem, und wirken dadurch anxiolytisch, sedierend, muskelrelaxierend und antikonvulsiv. Die maximale Wirkung wird durch die vorhandene GABA-Konzentration determiniert, wodurch ein «Ceiling»-Effekt erreicht wird. Auf Grund ­ihrer unterschiedlichen pharmakokinetischen Eigenschaften existieren jedoch grosse Unterschiede hinsichtlich der Wirkdauer zwischen den verschiedenen Benzodiazepinen (Tab. 1) [2].
Tabelle 1: Pharmakokinetik der Benzodiazepine und Z-Medikamente [2].
Wirkstoff/­GenerikumHandelsname®Einzeldosis* 
für Erwachsene (oral)Plasmapeak ­(Stunden)Halbwertszeit der ­Mutter­substanz ­(Stunden) **Aktivität; Halbwertszeit der Metaboliten (Stunden)
AlprazolamXanax, Xanax ­retard0,25–0,5 mg1–2; 
retardiert: 5–116–27inaktiv
BromazepamLexotanil1,5–3 mg1–220inaktiv
ChlordiazepoxidLibrax, Librocol5 mg2–410aktiv
ClobazamUrbanyl5 mg0,5–436aktiv; 79
ClonazepamRivotril0,25–0,5 mg1–430–40inaktiv
ClorazepatTranxilium5–30 mg1–2Prodrug: einige ­Minutenaktiv; 30–150
DiazepamPsychopax, Valium2–10 mg0,5–1,524–48aktiv; 40–100
FlunitrazepamRohypnol0,5–1 mg0,75–216–35aktiv; 28
FlurazepamDalamdorm15–30 mg0,5–12,3aktiv; 40–100
KetazolamSolatran15–60 mg32aktiv; 52
LorazepamLorasifar, Sedazin, ­Temesta, Somnium1–3 mg2–312–16inaktiv
LormetazepamLoramet, Noctamid1–2 mg1,510inaktiv
MidazolamDormicum7,5–15 mg11,5–2,5aktiv; <1
NitrazepamMogadon5 mg230inaktiv
OxazepamAnxiolit, Seresta30–60 mg2–45–20inaktiv
PrazepamDemetrin10–20 mglangsame ­AbsorptionProdrugaktiv; 50–80
TemazepamNomison10–20 mg17–11inaktiv
TriazolamHalcion0,125–0,25 mg1–21,5–5,5aktiv; 4
ZolpidemStilnox, Zoldorm,
Stilnox XR
5–10 mg0,5–3; retardiert: rasche initiale ­Absorption2–3inaktiv
ZopiclonImovane7,5 mg1,5–25aktiv; 4,4
* Dosierungsempfehlungen auch abhängig von Indikation.
** Einteilung anhand der Halbwertszeit: Kurzwirksam: <12 Stunden, intermediär: 12–24 Stunden, langwirksam: >24 Stunden. Determinanten der Wirkung sind Halbwertszeit, Resorptionsgeschwindigkeit und Lipophilie.
«Designer-Benzodiazepine», wie Etizolam, Clonazolam, Flubromazolam, werden in missbräuchlicher Absicht konsumiert. Die klinischen Effekte sind mit denen anderer Benzodiazepine vergleichbar [3].
Die sogenannten Z-Medikamente (Zolpidem, Zopiclon) weisen strukturelle Ähnlichkeiten mit Benzodiazepinen auf, besitzen jedoch keinen Benzodiazepin-Grundkörper. Die Z-Medikamente binden hauptsächlich an die Alpha1-Untereinheit des GABAA-Rezeptors, was die pharmakologischen Eigenschaften leicht verändert. So ist beispielsweise Zolpidem in erster Linie sedierend, aber kaum muskelrelaxierend, anxiolytisch und antikonvulsiv.
Benzodiazepine und Z-Medikamente weisen aufgrund ihrer Eigenschaften ein hohes Abhängigkeitspotential auf [4].

Symptome einer Benzodiazepin-Intoxikation – das Hypnotikum-Toxidrom

– Charakteristisch für das Hypnotikum-Toxidrom ist die ZNS-Depression (Somnolenz bis Koma) bei meist unauffälliger klinischer Untersuchung, unauffälligem EKG und normalen Vitalparametern.
– Neben der ZNS-Depression kann es auch zu Ataxie, Dysarthrie, Schwindel, Nystagmus, Mydriase, Muskelhypotonie und Blutdruckabfall kommen [1, 5].
– Selten sind Atemstörungen beschrieben. Die Dosis, die zu respiratorischer Insuffizienz führen kann, ist nicht quantifizierbar und abhängig von verschiedenen Faktoren, wie (kardio-)pulmonale Vorerkrankungen, Koingestionen, Alter, Gewicht, Gewöhnung und Genetik.
– Vereinzelt werden bei Benzodiazepin-Überdosierungen AV-Blockierungen I° beobachtet [7].
– Des Weiteren zu beachten sind mögliche Folgen eines Komas wie Liegetrauma und/oder Bronchoaspiration.
– Auch eine paradoxe Reaktion mit Agitation, Verwirrtheit und Halluzination ist möglich. Dabei führt eine Dosiserhöhung zur Verschlechterung der Symptome. Der genaue Pathomechanismus ist ungeklärt; Kinder und Hochbetagte scheinen häufiger betroffen zu sein [1, 6].

Symptome bei Benzodiazepin-Entzug

Bei Benzodiazepin-Entzug kommt es zu Tremor, Dysphorie, Angstzuständen, Wahrnehmungsstörungen, Psychosen, Delir und Krampfanfällen [8].

Diagnostik

Die Diagnose wird anhand der klinischen Situation und Anamnese gestellt. Abhängig von der Methode werden nicht alle Benzodiazepine durch standardmässige, toxikologische Urin-Assays nachgewiesen. Ein negativer Befund schliesst eine Benzodiazepin-Einnahme nicht aus. Quantitative Bestimmungen sind nicht sinnvoll, da keine Korrelation zwischen Serum-Konzentration und klinischen Effekten besteht. Metaboliten können bis Wochen nach Einnahme ein positives Resultat zeigen. Kreuzreaktionen z.B. für Efavirenz sind beschrieben.

Therapeutische Massnahmen

Allgemeine Massnahmen

– Im Normalfall ist bei Monointoxikation keine ­Dekontamination nötig.
– Eine einmalige Kohlegabe kann in Frühfällen (wacher Patient) und hohen Dosen, insbesondere bei langwirksamen Benzodiazepinen, sinnvoll sein. Cave: Gefahr der Aspiration von Kohle bei eintrübendem Patienten.
– Bewusstsein, Blutdruck und Atmung sind bis zum vollständigen Erwachen zu überwachen.
– Supportive Therapie wie Sauerstoffverabreichung, ggf. Beatmung; Volumen bei Hypotonie [3].

Antidot: Flumazenil

Flumazenil, ein nichtspezifischer kompetitiver Antagonist am Benzodiazepin-Rezeptor, ist das spezifische Antidot bei starker ZNS-Depression bei Überdosierungen, nach Anästhesie oder Kurznarkose bei Eingriffen [8].
Flumazenil hat jedoch ein kurze Wirkdauer von ca. zwei Stunden, und ein Wiedereintrüben bei anhaltender Benzodiazepin-Wirkung ist möglich. Flumazenil kann in diesem Fall wiederholt oder als Dauerinfusion verabreicht werden.
Flumazenil kann auch bei paradoxer Reaktion eingesetzt werden.

Cave

– Bei Kombinationsintoxikation mit krampferzeugenden und erregenden Medikamenten und Drogen kann Flumazenil die krampfhemmende bzw. sedierende Wirkung der Benzodiazepine aufheben.
– Bei Benzodiazepin-Abhängigkeit treten nach Gabe von Flumazenil Entzugssymptome auf.
Die orale Benzodiazepin-Überdosierung weist eine nur geringe Morbiditäts- und Mortalitätsrate auf. Der Einsatz von Flumazenil ist mit gewissen Risiken verbunden und sollte daher sorgfältig bezüglich Nutzen und Risiko abgewogen werden. Zur Vermeidung einer endotrachealen Intubation bei tiefer ZNS-Depression kann die Verabreichung von Flumazenil gerechtfertigt sein. Bei vollständiger Aufwachreaktion nach Ant­agonisierung der Benzodiazepinwirkung sind weiterführende Untersuchungen wie Lumbalpunktion oder CT-Untersuchung zum Ausschluss anderer Koma-Ursachen nicht mehr nötig [9].

Besonderheit: Propylenglykol-Vergiftung

Propylenglykol (1,2-Propandiol) ist das Lösungsmittel der parenteralen Darreichungsform von Diazepam und Lorazepam und ursächlich für ein seltenes Ver­giftungsbild bei langdauernder oder hochdosierter ­parenteraler Verabreichung dieser Benzodiazepine. Mögliche Symptome sind Hämolyse, Herzrhythmusstörungen, arterielle Hypotonie, Laktatazidose, Krampfanfälle, Koma und Multiorganversagen [10].

Prophylaxe

Eine kritische und sorgfältige Verschreibung von Benzodiazepinen und Z-Medikamenten mit Wahl der geringsten effektiven Dosis über eine begrenzte Zeitdauer könnte sowohl das Risiko der massiven Benzodiazepin-Überdosierung minimieren als auch einer Abhängigkeitsentwicklung entgegenwirken [1].

Hinweis

Diese Serie erfolgt in Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden des Tox Info Suisse. Für diese Zusammenarbeit möchte sich die Redaktion des PHC ganz herzlich bedanken!
Dr. med. Katharina E. Hofer
Tox Info Suisse
Freiestrasse 16
CH-8032 Zürich
Katharina.Hofer[at]toxinfo.ch
 1 Gaudreault P, Guay J, Robert L, et al. Benzodiazepine Poisoning. Clinical and Pharmacological Considerations and Treatment. Drug Safety. 1991;6:247–65.
 2 Fachinformation (www.swissmedicinfo.ch).
 3 Carpenter JE, Murray BP, Dunkley C, et al. Designer benzodiazepines: a report of exposures recorded in the National Poison Data System, 2014-2017. Clin Toxicol (Phila). 2019;57:282–86.
 4 Lader M. Benzodiazepines revisited – will we ever learn? Addiction.  2011;106:2086.
 5 Höjer J. Management of Benzodiazepine Overdose. CNS Drugs. 1994;2:7–17.
 6 Ansseau M, Pitchot W, Hansenne M, et al. Psychotic reactions to zolpidem. Lancet. 1992;339:809.
 7 Arroyo AM, Ballentine LM, Mowry JB, et al. Benzodiazepine-­Associated Atrioventricular Block. Am J Ther. 2012;19:e48–52.
 9 Tote S, Mulleague L. The role of flumazenil in self harm with benzodiazepines: to give or not to give? Hosp Med. 2005;66:308.
10 Wilson KC, Reardon C, T et al. Propylene glycol toxicity: a severe iatrogenic illness in ICU patients receiving IV benzodiazepines: a case series and prospective, observational pilot study. Chest. 2005;128:1674–81.