Interview mit Karin Hasenfratz, Hausärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität Zürich
Was ist Ihrer Ansicht nach das wichtigste Ergebnis dieses Projekts?
Spirituelle Themen spielen im medizinischen Kontext nicht nur am Lebensende eine wichtige Rolle, sondern auch bei anderen Erkrankungen wie chronischen Schmerzen. In diesem Projekt konnte gezeigt werden, dass sich eine deutliche Mehrheit (61,7%) der chronischen Schmerzpatienten wünschen, dass spirituelle Aspekte in der medizinischen Behandlung berücksichtigt werden. Auch viele Ärzte, Pflegende und Therapeuten, die chronische Schmerzpatienten behandeln, finden es wichtig, spirituelle Aspekte in der Behandlung zu berücksichtigen, fühlen sich dabei aber häufig unsicher. Es wurden klinisch relevante Aspekte von Spiritualität in Bezug auf chronische Schmerzen wie spirituelle Ressourcen, spirituelle Belastungen und spirituelles Wohlbefinden herausgearbeitet. Ein Fragebogen wurde entwickelt, um diese Aspekte auf geeignete Weise zu erheben, und mit 225 Patienten multizentrisch validiert. Diese Erkenntnisse wiederum wurden in ein Kommunikationsmodell für ein e-learning-Tool der Aus- und Weiterbildung von Gesundheitspersonal eingeflochten.
Welchen Nutzen für die Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner und deren Patienten im Speziellen wird dieses Projekt Ihrer Ansicht nach haben?
Persönlich bin ich in dem Projekt nicht nur als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin, sondern auch in meiner zweiten Beschäftigung als Hausärztin in der Praxis involviert. Die Betreuung chronischer Schmerzpatienten ist in meinem Alltag oft eine Herausforderung. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit spirituellen Aspekten schärfte mein Bewusstsein für diese Dimension in Gesprächen mit chronischen Schmerzpatienten. Das Wissen, dass sehr viele Patienten sich wünschen, auch mit dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin darüber zu sprechen, hat mir den Mut gegeben, spirituelle Aspekte anzusprechen, meine Patienten danach zu fragen. Die Konkretisierung klinisch relevanter Aspekte von Spiritualität und die Formulierungen des Fragebogens haben mir dabei geholfen, in Gesprächen die spirituelle Ressourcen und Belastungen meiner Patienten auszuloten. In der Grundversorgung werden chronische Schmerzpatienten langfristig – oft nach Behandlungen durch die Spezialisten und in Rehabilitationen – betreut. Gerade hier könnte, sofern vom Patienten gewünscht, die gezielte Einbindung spiritueller Ressourcen einen interessanten und hilfreichen Beitrag zur langfristigen Krankheitsbewältigung leisten.
Welchen Beitrag an eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung kann dieses Projekt leisten?
Während sich die Medizin in vielen Bereichen in immer höhergradige Spezialiserungsfelder bewegt, ist es umso wichtiger, eine patientenzentrierte Sicht des «Ganzen» im Sinne des bio-psycho-sozialen Modelles zu bewahren und zu stärken. Spiritualität ist ein wichtiger Aspekt von Krankheit und Gesundheit. Die Ergebnisse dieses Projektes können dazu beitragen, das Bewusstsein für die spirituelle Dimension im Umgang mit chronischen Schmerzen in der interdisziplinären Behandlung zu schärfen, deren Stellenwert zu eruieren und die Grundlagen für einen professionellen Umgang damit zu schaffen. Ohne zusätzliche Kosten könnte der bewusstere Einbezug spiritueller Ressourcen bei chronischen Schmerzpatienten zu einer besseren Versorgung führen.
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