Der kleine Unterschied, mit ­grossen Folgen

Editorial
Ausgabe
2022/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2022.10548
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2022;22(07):195

Publiziert am 06.07.2022

Themenschwerpunkt
Wie Sie bestimmt wissen, wird Sexualität und Gender längst nicht mehr binär definiert, sondern als Kontinuum in den Dimensionen Geschlechteridentität, Geschlechterrolle, Geschlechtskörper, sexuelle Präferenz und romantische Präferenz. Ja, mit letzterem scheint sogar die Liebe einen Platz in der Gender-Diskussion zu bekommen, jenseits von Rollen, Organen und Hormonen … An die Stelle von Gegensätzen tritt somit die Diversität. Problematisch wird es, wenn die Spannungen zwischen diesen Dimensionen zu gross werden – Nicole Brüll und David Garcia Nuñez beschreiben in ihrem Artikel übersichtlich, wie mit solcher Geschlechterdysphorie und dem resultierenden Leidensdruck umgegangen werden kann. Das Team um Yolanda Müller zeigt am Beispiel von Schmerzen und von Demenzerkrankung eindrücklich auf, wie «der kleine Unterschied» manchmal massive Auswirkungen auf die Versorgung haben kann. Ein weiteres Thema in ihrem Artikel, das durchaus in die Grundversorgung gehört, ist die Wahrnehmung von und der Umgang mit häus­licher Gewalt.
Medizinisch gesehen ist das Herz-Kreislaufsystem eine grosse Baustelle der Gendermedizin. Es beginnt schon bei der Prävention, wie Yael Rachamin und Vera Regitz-Zagrosek in ihrem Überblick über die diesbezügliche Forschung gekonnt aufzeigen, und gipfelt in der unterschiedlichen Versorgung von Frauen und Männern im Herzkreislaufbereich. Lesen Sie dazu den spannenden Artikel von Catherine Gebhard et al.
Auch auf dem medizinischen Karriereweg spielt das Geschlecht eine Rolle, wie Jeanne Moor ausführt. Dass hier, wie in anderen Berufsbranchen auch, Chancenungleichheit zwischen den Geschlechtern und Diskriminierung im 21. Jahrhundert immer noch so verbreitet sind, ist stossend und für direkt Betroffene frustrierend.
Haben Sie Lust auf vertiefte Informationen zu Gendermedizin bekommen? Dann lesen Sie die Interviews mit Catherine Gebhard und Stefan Gysin: Sie erläutern, warum und wie Gendermedizin in der Schweizerischen medizinischen Aus- und Weiterbildung verankert wird, und wo Sie selbst einzelne Kurse oder ein ganzes CAS dazu absolvieren könnten. Den gekonnten Schlusspunkt setzt Edy Riesen mit kernigen Aussagen zum «Tschendern», wie immer mit einem Augenzwinkern zu geniessen.
Den Autor:innen dieses Schwerpunktheftes gebührt ein grosser Dank dafür, dass sie das Thema aus ihrer Perspektive beleuchten und Sie so an ihrer einschlägigen Erfahrung teilhaben lassen. Ich hoffe, Sie danken es ihnen damit, dass Sie die Beiträge lesenswert finden und die Schlussfolgerungen daraus in Ihren Berufsalltag mitnehmen!
Prof. Dr. med. ­Stefan ­Neuner-Jehle
MPH, Institut für ­Hausarztmedizin
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
Stefan.Neuner-Jehle[at]usz.ch