Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) und FSME Impfung

Fortbildung
Ausgabe
2022/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2022.10488
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2022;22(06):178-184
Data Supplement
Literatur.pdf

Publiziert am 08.06.2022

Einleitung

Spätestens seit 2017 nehmen gemeldete FSME-Erkrankungen in der Schweiz zu. Im Jahr 2020 wurden 425 Fälle gemeldet, das ist der höchste Wert seit der Einführung der Meldepflicht (1988) [1]. Die Saison, in der Zecken besonders aktiv sind, beginnt je nach Witterung im März und endet im November; die meisten ­FSME-Fälle treten zwischen Mai und August auf [1]. ­Zudem haben sich die FSME-Risikogebiete in der Schweiz ausgedehnt: aktuell gelten nur noch das Tessin und Genf als FSME-frei [2, 3]. Ziel dieses Artikels ist, die ­re­levanten Informationen für die Praxis zur Epidemio­logie, Klinik, Diagnostik und Therapie der FSME-Erkrankung aufzuzeigen – als Grundlage für einen wohlüberlegten Impfentscheid. Über die Borreliose ­haben wir in den PHC-Ausgaben ­April und Mai 2022 berichtet.

Infektiologie-Serie

Infektionen und Immun­abwehr sind in der Praxis wichtige ­Themen. Sie bieten hervorragende Gelegen­heiten zu interdisziplinärer Zusammenarbeit, Überprüfung von gängigen Konzepten und Integration komplementärmedizinischer Sichtweisen. Philip Tarr ist Internist und Infektiologe am Kantonsspital Baselland und ­leitet das Nationale Forschungsprojekt NFP74 zu Impf­skepsis. Ihm liegt viel an einer patientenzentrierten Medizin und an praxisrelevanten Artikeln, die wir in der Folge in Primary and Hospital Care regel­mässig publizieren werden.
Update für die Praxis

Epidemiologie

Gibt es noch FSME-freie Gebiete in der Schweiz?

Zecken leben gemäss den Angaben des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) bis auf 2000 m ü.M. [4, 5]. Abbildung 1A zeigt die vermuteten Zeckenstichorte bei den gemeldeten FSME-Fällen [2]; die Verteilung ist schweizweit sehr lückenhaft. In der kleinräumigen Schweiz ­befinden wir uns allerdings relativ schnell in einer Region mit gemeldeten Zeckenstichen – aufgrund von Beruf, Schule oder Freizeitaktivitäten. Somit scheint die Bezeichnung quasi der ganzen Schweiz als FSME-­Risikogebiet, mit entsprechender Impfempfehlung des BAG, eine sinnvolle, pragmatische Lösung (Abb. 1B [2]). 2019 konnten zudem FSME-infizierte Zecken auch im Tessin nachgewiesen werden [6].
Abbildung 1A: 
Vermutete Zeckenstichorte bei den gemeldeten FSME-Fällen (falls dem BAG kein Zeckenstichort gemeldet wurde: Wohngemeinde). Reproduziert mit freundlicher Genehmigung des BAG.
Abbildung 1B: 
FSME-Impfempfehlung («FSME-Risiko­gebiete»). Gemäss [2], reproduziert mit freundlicher ­Genehmigung des BAG.

In welchen Ländern kann ich im Fall eines ­Zeckenstichs an FSME erkranken?

In weiten Teilen Mitteleuropas inklusive dem süd­lichen Skandinavien, in Ländern des Balkans und des Baltikums, in Russland bis nach Japan und Korea (Abb. 2).

Ich habe gelesen, dass ich mich mit FSME nicht nur via Zecken anstecken kann. Stimmt das?

Selten wurde von FSME-Übertragungen nach Konsum von Rohmilchprodukten, vor allem Ziegenmilch, berichtet [7–10]. Durch Pasteurisieren der Milch wird das FSME-Virus vollständig inaktiviert [11].

Kann ich mich bei einer Bluttransfusion ­anstecken?

Wahrscheinlich nicht [12], möglicherweise jedoch bei einer Organtransplantation [13, 14].
Abbildung 2: 
Geografische Ausbreitung der FSME.   © Valeria Tarr.

Kann eine frühe Entfernung der Zecke die ­Übertragung verhindern?

Wahrscheinlich nicht. Das FSME-Virus wird innerhalb von Minuten während des Zeckenstichs übertragen, vermutlich weil das Virus im Speichelapparat der Zecke lebt [15, 16]. Bei der Borreliose hingegen steigt das Risiko einer Borrelien-Übertragung mit der Dauer der Zecken-Anheftung. Zur Übertragung ist wohl eine Anheftung von mindestens 16 Stunden notwendig, wahrscheinlich weil die Spirochäten im Darm der Zecke ­leben und erst verzögert in den Menschen übertreten [17–19].

Klinik

Wie lange ist die Inkubationszeit?

Circa 7–14 Tage (Spannbreite 2–28 Tage) [20, 21].

Gibt es asymptomatische Fälle von FSME?

Ja. Etwa zwei Drittel aller FSME-Ansteckungen (Serokonversionen) verlaufen ohne Symptome [2, 20–22].

Was ist die typische Klinik?

Eine unspezifische, «grippe-ähnliche» Erkrankung mit Fieber, Müdigkeit, Allgemeinschwäche, Kopf- und Gliederschmerzen von ca. 5 (2–10) Tagen Dauer, gefolgt von einer spontanen Besserung [16, 23, 24]. Bei mehr als 80% der Patientinnen und Patienten ist die FSME-Erkrankung damit beendet und sie denken gar nicht ­daran, dass das FSME gewesen sein könnte [2]. Auch die Serologie ist während der grippalen Phase oft noch ­negativ [24, 25].

Wie oft kommt es zu neurologischen ­Symptomen?

Nach der ersten, grippalen Phase kommt es nur bei 5–15% der Patientinnen und Patienten nach weiteren 4–6 Tagen zu einem «biphasischen» Verlauf, mit erneutem Fieberanstieg und neurologischen Symptomen (Tab. 1) [2, 16, 20, 24, 26–28].

Warum empfiehlt das BAG niederschwellig die FSME-Impfung?

Um diese seltenen, aber teils schwer verlaufenden neurologischen Erkrankungen zu verhindern, denn für diese gibt es keine Therapie [20].

Wie hoch ist also die Wahrscheinlichkeit, nach einem Zeckenstich an FSME zu erkranken?

In der Schweiz sind je nach Gebiet ca. 0,1% bis knapp 1% der Zecken mit dem FSME-Virus infiziert. Da jedoch zwei Drittel der FSME-Ansteckungen asymptomatisch verlaufen, ist das Risiko der grippalen beziehungsweise neurologischen FSME-Erkrankung sehr tief (Abb. 3) [29–31]. Uns sind allerdings dazu keine detaillierten Schweizer Studien bekannt [24, 32], im Gegensatz zur Borreliose: das Serokonversionsrisiko nach Zeckenstich beträgt 0,6–4,5% [33, 34], das klinische Borrelioserisiko ca. 0,8% [34, 35].
Abbildung 3: 
Grafische Darstellung des FSME-Erkrankungsrisiko nach einem Zeckenstich, © Katia Boggian.

Wie kann ich die FSME von einer Neuroborreliose unterscheiden?

Siehe Tabelle 1. Die klinische Unterscheidung ist unzuverlässig – daher niederschwellige Labortestung auf beide Erreger.
Tabelle 1: 
Klinische Manifestationen von FSME und Neuroborreliose.
 Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME)*Neuroborreliose (NB)**
ErregerFSME-Virus (ein Flavivirus)Borrelien (Spirochäten – Bakterien)
Inkubationszeit7–14 Tage (Spannbreite 2–28 Tage) nach ZeckenstichFrühe NB: Wochen bis Monate; Späte NB: Monate bis viele Jahre nach Zeckenstich (meist innerhalb von 2–3 Jahren)
Typische SymptomeZuerst grippe-ähnlich (Fieber, Müdigkeit, Verschlechterung des Allgemeinzustands, Kopf-, Gliederschmerzen). Frühe NB: Meningitis, Radikulitis, Hirnnervenausfälle (v.a. periphere Fazialisparese)
5–15%: biphasischer Verlauf mit neurologischen Symptomen***:
 
– Meningitis (20–50%; unter anderem Fieber, Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit)Späte NB: progressive Enzephalomyelitis (spastisches ­ataktisches Gangbild, Blasendysfunktion, kognitive Defizite), ­chronische Polyneuropathie (Radikulitis, distal symmetrische Parästhesien, oft ohne motorische Ausfälle)
– Meningoenzephalitis (40–55%; u.a. Ataxie, Bewusstseins­störung, Lähmung von Extremitäten und Hirnnerven) oderNeben der NB immer noch andere Borrelien-Manifestationen wie z.B. Erythema migrans erfragen**
– Meningoenzephalomyelitis (3–10%; u.a. Bewusstseinsstörung, Arm- oder Beinlähmungen) 
DiagnostikUngeimpfte: Serologie (IgM-Antikörper, keine bereits ­vorhandenen IgG-Antikörper)Serologie, teilweise zusätzlich Lumbalpunktion (intrathekale Antikörperproduktion)
Geimpfte: Lumbalpunktion (intrathekale Antikörper-Produktion); serologisch initial starker IgG-Anstieg, teils gefolgt von ­«verspätetem» IgM-Anstieg 
TherapieSymptomatischAntibiotika (Doxycyclin peroral, Ceftriaxon intravenös)
Prävention***Schutz vor Zeckenstich mit langer Kleidung und RepellentienSchutz vor Zeckenstich analog zur FSME, rechtzeitiges ­Entfernen der Zecke
Impfung FSME-Immun CC® oder Encepur® mit 95–99% SchutzKeine Impfung vorhanden
* basierend auf den BAG Empfehlungen [2, 20]; ** siehe unsere ausführliche Diskussion in PHC 05/2022, sowie die Schweizer Empfehlungen [36–38, 39]; *** Zahlen basierend auf [21, 24, 27]

Diagnostik

Wie diagnostiziere ich die FSME?

Bei ungeimpften Patientinnen und Patienten meist anhand von FSME-spezifischen IgM- und noch fehlenden IgG-Antikörpern im Serum (Abb. 4) [16, 21, 24]. Wichtig: IgM-Antikörper sind meist erst mit dem Auftreten von neurologischen Symptomen (2. Krankheitsphase) nachweisbar (ca. 2–4 Wochen nach einem Zeckenstich), IgG-Antikörper nochmals 1–2 Wochen später [24, 25]. Daher: bei hohem Verdacht und initial negativer Serologie immer eine Verlaufsserologie nach 1–2 Wochen durchführen.

Kann ich die FSME auch mittels PCR-Diagnostik diagnostizieren?

Lediglich in der grippalen Phase, vor dem Auftreten von spezifischen Antikörpern, kann die FSME-PCR (PCR: Polymerase Chain Reaction) im Blut positiv sein [16, 21, 24, 40]. Eine negative PCR schliesst eine FSME jedoch nicht aus und in der grippalen Phase stellt sich ohnehin selten jemand bei der Hausärztin oder dem Hausarzt vor. Somit eignet sich die PCR kaum für die FSME-Diagnostik. In der zweiten (neurologischen) Phase der FSME ist die PCR-Diagnostik nicht empfohlen: die Sensitivität ist zu tief [40, 41]. 

Gibt es andere Laborauffälligkeiten im Blut?

In der grippalen Phase sind oft (ca. 70% [28, 42]; nur 10–20% laut [43]) eine Leukopenie und/oder Thrombo­penie messbar, seltener (ca. 20% [42]) leicht erhöhte ­Serum-Transaminasen. In der neurologischen Phase der FSME sind die Leukozyten jedoch oft erhöht, gelegentlich auch das C-reaktive Protein [16, 24, 44].

Wie diagnostiziere ich eine FSME bei einer ­gegen FSME-geimpften Person («Impfdurchbruch»)?

Bei FSME-geimpften Personen lassen sich meist jahrelang IgG-Antikörper nachweisen [45]. Dies erschwert die Interpretation der Serologie bei Verdacht auf einen Impfdurchbruch. Hier sind zu Beginn oft isoliert IgG-Antikörper (AK) nachweisbar, die relativ schnell an­steigen, während die IgM-AK erst verzögert auftreten [44–46]. Für die Bestätigung eines Impfdurchbruchs gilt die Lumbalpunktion als Referenzmethode (erhöhter Liquor:Serum-Antikörper-Quotient, sogenannte «intrathekale Antikörper-Produktion») [21, 24]. Allenfalls werden sich künftig alternative Diagnosemethoden durchsetzen, beispielsweise der Nachweis von neutralisierenden AK oder AK gegen NS1 (nicht strukturelles Protein 1) des FSME-Virus im Serum. Diese AK treten nur bei aktiver Infektion auf, nicht nach Impfung [24, 47].
Abbildung 4: 
 FSME-Diagnostik. Zeitlicher Verlauf bei ungeimpften Personen, © ­Cécile Lanz.

Meine Patientin, die mit Fieber und Gliederschmerzen aus Kolumbien zurückkehrt, hat Dengue. Aber die FSME-Antikörper sind auch ­positiv. Hat sie nun Dengue oder FSME oder ­beides?

Positive FSME-AK können aufgrund von Kreuzreaktionen innerhalb der Flaviviren (u.a. Dengue, Gelbfieber, Zika, Westnil-Virus, Japanische Enzephalitis) vorkommen. Serologisch sind Dengue und FSME also nicht immer zuverlässig zu unterscheiden. Wichtig sind eine detaillierte Impfanamnese und die Symptomatik (neurologische Symptome sprechen für FSME und gegen Dengue [48]). Eine Dengue-, Zika-, oder Chikungunya-PCR im Blut kann diagnostische Klarheit bringen, allerdings wird die PCR, wie bei FSME, etwa eine Woche nach Symptombeginn wieder negativ [48–51]. Im Zweifel sollte eine Lumbalpunktion erfolgen (intrathekale FSME-AK-Produktion suchen).

Soll bei allen Patientinnen und Patienten mit vermuteter FSME eine Lumbalpunktion durchgeführt werden? 

Grundsätzlich ja, wenn die Situation noch unklar ist und andere Diagnosen ausgeschlossen werden sollen (Neuroborreliose, virale und bakterielle Meningitis) [21]. Typisch für FSME ist eine moderate Pleozytose (anfangs granulozytär, später lymphozytär – Zellzahl ca. 30–300 Zellen/µl) mit normalem Glukose-Quotienten (Liquor:Serum >0,5). In der Mehrheit der Fälle ist eine beeinträchtigte Blut-Liquor-Schranke nachweisbar [28, 45, 52]. Achtung: Intrathekale FSME-AK sind bei Sym­ptombeginn nur in ca. 50% nachweisbar, 10 Tage nach Symptombeginn dann bei praktisch allen FSME-Pa­tientinnen und -Patienten [25, 45, 53].

Braucht es ein Schädel-MRI?

Das MRI (Magnetic Resonance Imaging) ist bei nur ­circa 20% der FSME-Patientinnen und -Patienten abnormal und wird daher nicht empfohlen [54]. Die MRI-Befunde sind zudem meist unspezifisch und korrelieren nicht mit einzelnen klinischen Symptomen oder dem Schweregrad der Erkrankung [55]. Zum Ausschluss anderer Diagnosen wie der Herpes-simplex-Enzephalitis kann ein MRI aber hilfreich sein [21, 24].

Therapie und Verlauf

Meine Patientin hat eine bestätigte FSME. Wie kann ich sie therapieren?

Es gibt keine kausale FSME-Therapie. Die Therapie richtet sich nach den Beschwerden (Schmerzmittel bei Kopf- oder Gliederschmerzen).

Ist FSME gefährlich?

Die Mortalität bei Erwachsenen liegt um 1% [28, 56, 57]. Ein höheres Alter (>60 Jahre), männliches Geschlecht und Immunsuppression sind Risikofaktoren für einen schweren Verlauf. In einer Studie von 1999 wurde fast die Hälfte der FSME-Patientinnen und -Patienten mit Meningoenzephalomyelitis auf einer Intensivstation behandelt und 15% benötigten eine maschinelle Beatmung [28]. 

Wird sich meine Patientin folgenlos von der FSME erholen?

Leider nicht in allen Fällen. Nach einem Jahr hatte in mehreren Studien noch über ein Drittel der Patientinnen und Patienten persistierende Symptome, hauptsächlich Kopfschmerzen, Konzentrations- oder Gedächtnisprobleme, Müdigkeit, oder eine verminderte Balance und Koordination (Abb. 5) [57–62]. Während die FSME-Meningitis meist folgenlos ausheilt, müssen ­circa 20% der Patientinnen und -Patienten mit Meningoenzephalitis mit bleibenden Defekten rechnen [24]. In seltenen Fällen blieben auch durch FSME verursachte Hemiparesen oder Hirnnervenlähmungen bestehen.
Abbildung 5: 
Residualbeschwerden zu verschiedenen Zeitpunkten nach FSME. Reproduziert aus [62], mit freundlicher Genehmigung von Swiss Medical Weekly.

Kann man Spätfolgen vorhersagen?

Der Schweregrad der akuten FSME-Infektion spielt eine Rolle: Persistierende Schäden sind 12 Monate nach purer Meningitis selten, aber nach Meningoenzephalitis und vor allem Enzephalomyelitis deutlich häufiger [24].

Ist meine Patientin nach einer FSME-Infektion lebenslang immun?

Ja [21, 24, 63–65]. «Auffrisch»-Impfdosen braucht es nicht. Im Gegensatz dazu kann man mehrere Male im Leben an Borreliose erkranken [66, 67]. 

Prophylaxe: FSME-Impfung

Wie kann ich mich gegen Zeckenstiche ­schützen?

Darüber berichten wir in einer der nächsten PHC-Ausgaben. Durch helle Kleidung mit langen Ärmeln und Hosen, geschlossene Schuhen, Repellentien. Diese Massnahmen schützen nicht zu 100%. Daher ist der sicherste Schutz vor einer FSME und deren Spätfolgen die Impfung.

Meine Patientin ist gegen FSME geimpft. Kann sie trotzdem an FSME erkranken?

Keine Impfung schützt zu 100% und die Wirksamkeit der vollständigen FSME-Impfserie (3 Dosen) wird auf 95–99% geschätzt [3, 20, 68]. Es gibt seltene Berichte von einzelnen Personen, die trotz 3 Impfdosen an FSME erkrankten [23, 26, 69–71]. Wichtig: Die FSME-Diagnostik bei Geimpften erfolgt anders als bei Ungeimpften (siehe oben).

Ist die Impfung denn überhaupt sinnvoll?

Unbestritten ja. Österreich impft bereits seit den 1970er Jahren gegen FSME, sodass früh über 80% der Bevölkerung geimpft war. Seither konnten FSME-Fälle stark reduziert werden (Rückgang von 500–700 Fällen/Jahr auf 50–60 Fälle/Jahr) [72, 68].

Für wen ist die FSME-Impfung sinnvoll?

Vor 2006 empfahl das BAG die Impfung nur besonders ­exponierten Personen, seither aber allen Personen, die in einem Risikogebiet wohnen oder sich zeitweise dort ­auf­halten [73] – folglich den meisten Bewohnerinnen und Bewohnern der Schweiz. Die Impfung ist insbesondere ­Erwachsenen und älteren Menschen empfohlen, die viel Freizeit in der Natur verbringen und sich mit hoher Sicherheit vor einer zwar seltenen, aber potenziell gefährlichen Krankheit mit möglichen Spätfolgen schützen wollen.

Wird die FSME-Impfung von der Krankenkasse bezahlt? 

Ja, im Rahmen der Grundversicherung [73].

Meine 3-jährige Tochter geht in eine Waldspielgruppe – soll ich sie nicht auch impfen?

Kinder und Jugendliche haben meist einen milden Verlauf ohne oder mit wenig Symptomen. Daher empfiehlt das BAG die Impfung «im Allgemeinen» erst ab 6 Jahren [73]. Schwere neurologische Verläufe sind zwar bei Kindern selten, kommen aber vor [16, 20, 24, 74]. Auch bei Kindern und Jugendlichen wurden in Nachuntersuchungen bei bis zu einem Drittel neuropsychologische Defizite dokumentiert [24]. Wer sein ein- bis fünfjähriges Kind also wegen häufigen Zeckenexpositionen impfen möchte, darf das tun [3]. In Österreich wird die Impfung ab dem ersten Geburtstag empfohlen [75]. In Kinderarztpraxen wird beobachtet, dass die Eltern ihre Kinder gut schützen wollen, aber nicht an sich selbst denken, was noch sinnvoller wäre.

Nimmt die FSME-Impfrate in letzter Zeit zu?

Ja, und zwar deutlich [27]. Neben der ausgedehnteren Impf-Empfehlung von 2006 spielen wahrscheinlich auch die dank der Sentinella-Überwachung dokumentierten Zeckenstichraten eine Rolle, die regelmässig in den Medien aufgegriffen werden und der Bevölkerung die Thematik vergegenwärtigen [76, 77].

Warum ist das Impfschema bei den beiden Impfstoffen nicht gleich?

Wichtig: Die Impfabstände wurden bei den Zulassungsstudien durch die beiden Firmen unterschiedlich festgelegt, sodass nur für diese Impfabstände Daten vorliegen und die Impfungen nur so zugelassen sind (Abb. 6). Trotzdem: die beiden Impfstoffe sind austauschbar.
Abbildung 6: 
FSME-Impfschema; Empfehlungen basierend auf dem Compendium [78, 79] und dem BAG [73, 80], © Cécile Lanz.

Wann besteht Impfschutz?

Etwa zwei Wochen nach der 2. Impfdosis [81]. Der Schutz verschwindet circa nach einem Jahr wieder, falls keine 3. Dosis verabreicht wird [82]. Die 3. Dosis stellt also bereits die 1. Boosterdosis dar.

Ist das Schnellschema wirklich gleich wirksam wie eines der Standardschemen?

Generell kann die Immunantwort auf alle Impfungen bei zu kurzen Impfabständen reduziert sein [75, 83]. Studien zum FSME-Schnellschema (Abb. 6) zeigen aber mit den Standardschemen vergleichbare Ergebnisse [84, 85] – wichtig: Booster-Dosis nicht vergessen.

Mein Patient hat vor 8 Jahren zwei FSME-Impfdosen erhalten. Muss ich nun wieder von vorne beginnen?

Nein – man muss bei «zu langen» Impfabständen nicht wieder «von vorne» beginnen: Jede Impfung zählt! ­Einfach fehlende (hier: 3.) Dosis geben und so die Impf­serie komplettieren [75, 83].

Wann braucht es eine Auffrischimpfung?

Das BAG empfiehlt: alle 10 Jahre [73, 86].

Wieso wird in Deutschland eine Auffrischimpfung (Booster) nach 3 Jahren, danach alle 5 Jahre empfohlen?

Bis 2006 wurde auch in der Schweiz alle 3 Jahre eine Auffrischungsimpfung empfohlen. Allerdings zeigen Studien, unter anderem aus der Schweiz, über viele Jahre persistierende FSME-AK-Titer [87–91]. So wurde das Intervall in der Schweiz im März 2006 auf 10 Jahre verlängert und damit die Akzeptanz der Impfung erhöht [73, 90]. Neuere Studien unterstützen diese Empfehlung [86, 92, 93]. 

In Deutschland und Österreich werden bei älteren Personen kürzere Intervalle zwischen den Auffrischimpfungen empfohlen als bei jüngeren. Wieso?

Wie bei anderen Impfstoffen, so nehmen auch bei FSME die AK-Titer mit zunehmendem Alter tendenziell schneller ab (Immunseneszenz) [94, 95]. Konkret: Über 80% der Patientinnen und Patienten mit einem «Impfdurchbruch» (FSME trotz korrekter Impfung) sind über 50 Jahre alt [96]. Daher wird in Deutschland ab 50 Jahren (Encepur®-Impfstoff) beziehungsweise 60 Jahren (FSME-Immun®-Impfstoff) ein kürzeres Booster-Intervall empfohlen: alle 3 statt alle 5 Jahre. In Österreich beträgt das Booster-Intervall unabhängig vom Impfstoff ab dem 60. Geburtstag 3 Jahre [75, 82]. Aber: Die meisten «tiefen» AK-Titer bei den Über-50-Jährigen ­liegen immer noch in einem als schützend geltenden Bereich [92]. Kurz: Das vom BAG empfohlene Auffrischintervall von 10 Jahren scheint weiterhin für alle Alters­gruppen sinnvoll [86].

Mein Patient möchte anhand vom AK-Titer ­entscheiden, ob er eine Auffrischimpfung braucht – was soll ich ihm sagen?

Grundsätzlich wird dies nicht empfohlen, da bislang kein Schwellenwert für FSME-AK definiert ist, der einen Impfschutz garantiert [80, 82]. Einige Expertinnen und Experten teilen diese Meinung nicht [87, 91]. Bei beruflich besonders exponierten Personen (z.B. im Wald arbeitende Personen) finanziert oft der Arbeitgeber (z.B. Kanton) eine jährliche Titerbestimmung plus die Booster-Dosis, falls der Titer unter den mutmasslich schützenden Schwellenwert abfällt.

Meine Patientin ist immunsupprimiert und möchte sich gegen FSME impfen lassen. Wirkt die Impfung trotzdem?

Nicht immer. Wie bei anderen Impfungen haben immunsupprimierte Patientinnen und Patienten auch nach FSME-Impfung eine geringere Serokonversionsrate (35–55%) im Vergleich zu gesunden Personen (95–99%) [3, 20, 97–99]. Eine allfällige FSME-Infektion bei Immunsupprimierten kann zudem einen schwereren Verlauf haben [24, 100, 101]. Wie bei anderen Impfungen gilt auch bei FSME: falls möglich, bereits vor Immunsuppression impfen und die Patientinnen und ­Patienten instruieren, sich gut gegen Zeckenstiche zu schützen [101, 102].

Sind FSME-Impfungen sicher?

Meist ja [2, 82, 103]. Die FSME-Impfung hatte früher wegen häufiger Nebenwirkungen einen schlechten Ruf, worauf im Jahr 2000 der Herstellungsprozess geändert wurde [81]. In einer Übersichtsstudie von 2009 mit über 8100 Teilnehmenden traten keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auf [104]. Die Swissmedic beschreibt die Verträglichkeit als ähnlich wie bei anderen Impfungen [105]. Das BAG schätzt schwere allergische Reaktionen auf 1–2 von 1 000 000 Dosen und erwähnt sehr seltene schwere neurologische Nebenwirkungen bei 1:70 000 bis 1:1 000 000 Dosen [20].

Mit welchen Nebenwirkungen muss ich nach ­einer FSME-Impfung rechnen?

Ähnlich wie bei anderen Impfungen: Ein Drittel der Geimpften erleben während 1–2 Tagen nach der Impfung Rötung, Schwellung oder Schmerzen an der Einstichstelle [20]. Ausserdem können Kopfschmerzen, Müdigkeit, Gliederschmerzen und seltener Fieber auftreten [20, 82]. Generell treten mit den neueren Impfstoffen (ab 2001) weniger Nebenwirkungen auf als zuvor [103].

Soll ich eine postexpositionelle FSME-Prophylaxe in Form einer aktiven oder passiven Impfung verabreichen?

Nein. Eine FSME-Prophylaxe nach einem Zeckenstich wird nicht (mehr) empfohlen. Bis ins Jahr 2003 war eine passive Impfung (postexpositionelle Gabe von FSME-spezifischem Immunglobulin) auf dem Markt, die jedoch aufgrund fehlender Wirksamkeitsdaten in Europa nicht mehr zugelassen ist [21, 24]. Auch eine aktive Impfung nach einem Zeckenstich ist postexpositionell unwirksam – der Wirkungseintritt (Induktion von neutralisierenden AK) dauert leider zu lange. Einige Expertinnen und Experten befürchten zudem, dass, ähnlich zu Dengue, der Verlauf einer bereits inkubierenden FSME durch die Impfung ungünstig beeinflusst werden könnte [48, 106]. Nach einem Zeckenstich wird im österreichischen Impfplan die FSME-Grundimmunisierung erst 4 Wochen später empfohlen.

Das Wichtigste für die Praxis

  • 85–95% aller FSME-Ansteckungen verlaufen asymptomatisch oder imponieren als unspezifischer grippaler Infekt.
  • Nur 5–15% der Infizierten haben einen biphasischen Verlauf mit ZNS-Symptomen (20–50% Meningitis, 40–55% Meningoenzephalitis, 3–10% Meningoenzephalomyelitis).
  • Ein schwerer Verlauf und bleibende neurologische Schäden sind nach FSME selten und nehmen mit zunehmendem Alter zu; diese zu verhindern ist die Hauptindikation der Impfung.
  • Die Diagnostik der FSME erfolgt bei ungeimpften Personen primär serologisch (IgM-Antikörper) – bei ZNS-Symptomen ist eine Lumbalpunktion empfohlen, um andere Diagnosen zu suchen (frühe Neuroborreliose, bakterielle oder virale Meningitis).
  • Bei FSME trotz korrekter Impfung ist der diagnostische Goldstandard die Lumbalpunktion (Nachweis der intrathekalen FSME-Antikörperproduktion).
  • Aufgrund von Kreuzreaktionen kann die Serologie allein nicht zuverlässig zwischen einer FSME-, Dengue-, Gelbfieber- und Zikavirus-Infektion unterscheiden.
  • Bis zum Jahr 2000 hatte die FSME-Impfung einen schlechten Ruf (viele Nebenwirkungen) – heute ist die Verträglichkeit gut (ähnlich wie andere Impfungen).
  • Jede Impfung zählt: Auch nach langen (jahrelangen) FSME-Impfabständen und fehlenden Dosen reicht es, einfach die fehlenden Dosen nachzuholen.
Die Autoren haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Prof. Dr. med. Philip Tarr
Medizinische ­Universitätsklinik
Kantonsspital Baselland
CH-4101 Bruderholz
philip.tarr[at]unibas.ch
2 Bundesamt für Gesundheit (BAG). Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). 2021 07.10.2021 [cited 2021 26.10.2021]; Available from: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/krankheiten-im-ueberblick/fsme.html
13 Rauer, S. and S. Kastenbauer. Neuroborreliose, S3-Leitlinie. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie 2018 [cited 2021 30.10.2021]; Available from: https://dgn.org/wp-content/uploads/2013/01/030071_LL_Neuroborreliose_2018.pdf.
16 Lindquist, L. and O. Vapalahti, Tick-borne encephalitis. Lancet, 2008. 371(9627): p. 1861-71.
21 Taba, P., et al., EAN consensus review on prevention, diagnosis and management of tick-borne encephalitis. Eur J Neurol, 2017. 24(10): p. 1214-e61.
24 Kaiser, R., et al. Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), S1-Leitlinie. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie 2020 [cited 2021 26.10.2021]; Available from: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030-035l_S1_Fruehsommer_Meningoenzephalitis_FSME_2020-02.pdf.
86 Schmidt, A.J., et al., Tick-borne encephalitis (TBE) in Switzerland: Does the prolongation of vaccine booster intervals result in an increased risk of breakthroughs? J Travel Med, 2021. taab158. doi: 10.1093/jtm/taab158