Beyond Guidelines: Unprovozierte Lungenembolie

Fortbildung
Ausgabe
2022/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2022.10435
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2022;22(03):94-96

Publiziert am 09.03.2022

Während des spannenden Vortrags von Frau PD Dr. med. Christine Baumgartner, Leitende Ärztin Allgemeine Innere Medizin am Inselspital Bern, und Prof. Dimitrios Tsakiris, Fachleiter diagnostische Hämatologie am Universitätsspital Basel, konnten die Teilnehmenden ihr Wissen über die unprovozierte Lungenembolie, deren Diagnostik, Folgen und Therapien auffrischen und anschliessend Fragen mit den Experten diskutieren. Hier eine kleine Ausführung der oben genannten Thematik. 

Weiter- und Fortbildung aus der Sicht des Nachwuchses
Venöse Thromboembolien (VTE) sind eine Gruppe sehr häufiger hämatologischer Ereignisse weltweit. Sie beinhalten sowohl die tiefen Venenthrombosen (TVT), als auch die Lungenembolien (LE). Rund 10 Mio. Fälle treten pro Jahr weltweit auf [1]. Provozierte thromboembolische Ereignisse machen dabei mit rund 60% die Mehrheit aller VTE aus. Dabei spielen klinische oder biochemische Risikofaktoren eine Rolle bezüglich Kausalität, die dann weiter zwischen transienten und persistierenden unterschieden werden. Reduzierte Mobilität in den letzten 2–3 Monaten, Schwangerschaft, Östrogentherapie, Operationen, Traumata – dies sind bekannte transiente Risikofaktoren für provozierte thromboembolische Ereignisse. Zu den persistenten Risikofaktoren werden hingegen eine ­aktive Krebserkrankung, die hereditäre Thrombophilie, die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (IBD) und in gewissen Publikationen auch das Antiphospholipid-Syndrom (APS) gezählt.

Die unprovozierte Lungenembolie

40% der thromboembolischen Ereignisse sind auf keinen der obgenannten transienten oder persistierenden Risikofaktoren zurückzuführen, sondern ereignen sich «spontan». Es kann jedoch auch bei den vermeintlich nicht-provozierten Ereignissen eine bis anhin nicht bekannte Ursache wie z.B. eine Krebserkrankung zugrunde liegen. Das erste Mal wurden venöse Thromboembolien im Zusammenhang mit Malignomen 1867 von Armand Trousseau beschrieben [2]. Er erforschte dieses Gebiet über Jahre und stellte damals den Zusammenhang zwischen gastrointestinalen Malignomen und Phlebitiden fest – zuletzt auch bei sich selbst. Damit wurde vor über 150 Jahren Krebs bereits als Risikofaktor für eine venöse Thromboembolie bzw. venöse Thromboembolien als Erstmanifestation einer Krebserkrankung erkannt.
40% der thromboembolischen Ereignisse ­kommen «spontan» vor.
Somit stellt sich bei einer unprovozierten Lungen­embolie immer die Frage nach der Suche einer aktiven Krebserkrankung – um sie, wenn vorhanden, in einem kurativen Stadium zu finden und dadurch möglichst Mortalität und Morbidität zu senken. Wie häufig Krebserkrankungen bei venösen Thromboembolien tatsächlich vorkommen, erforschte eine Metaanalyse von 2008, welche die Inzidenz undiagnostizierter Krebserkrankungen nach provozierten und unprovozierten venösen Thrombeombolien untersuchte [3]. Dabei zeigte sich, dass das Krebsrisiko innerhalb der ersten 12 Monate nach thromboembolischen Ereignissen bei einem provozierten Ereignis bei rund 2,6% liegt, bei einem unprovozierten bei rund 10%. Insgesamt ist das Risiko einer Krebsdiagnose bei unprovozierten Thromboembolien deutlich erhöht, wobei die am häufigsten detektierten Malignome Karzinome von Colon, Lunge, Pankreas und Prostata sind. Das höchste Risiko zur Detektion eines neuen Malignoms besteht innerhalb der ersten sechs Monate nach Dia­gnose des thrombotischen Ereignisses.

Neoplasie suchen, aber wie?

Die unprovozierte VTE birgt das Risiko des Vorliegens einer okkulten Neoplasie, wobei sich die Frage stellt, wie diese gesucht werden sollte. Prinzipiell wurden zwei Arten des Screenings unterschieden:
  1. Limitiertes Screening: Anamnese, Status, Basislabor (Differentialblutbild, Elektrolyte inkl. Ca2+, Kreatinin, INR, Leberwerte), Urinanalyse, evtl. Röntgen-Thorax, übliche alters- und geschlechtsabhängige Krebsvorsorge
  2. Erweitertes Screening: zusätzlich zur obgenannten Diagnostik eine oder mehrere der folgenden Untersuchungen: CT (Thorax) Abdomen/Becken, Ultraschall Abdomen/Becken, Endoskopien, Tumormarker (z.B. CEA, CA 125) oder PET-CT.
Bisher konnte kein signifikanter klinischer Nutzen des extensiven Screenings betreffend krebsassoziierter Mortalität sowie Gesamtmortalität nachgewiesen werden [5]. Ebenfalls ist zu beachten, dass ein extensives Screening auch Risiken wie falsch positive Ereignisse, psychische Belastungen, zusätzliche Strahlenbelastung und hohe Kosten birgt.
Tabelle 1:
Risikofaktoren für Blutungen unter gerinnungshemmender Therapie und geschätztes Risiko schwerer Blutungen in den Kategorien geringes, mittleres und hohes Risiko. Copyright © 2021 American College of Chest Physicians. Reprinted from Kearon, C. (2016). Antithrombotic Therapy for VTE Disease: CHEST Guideline and Expert Panel Report. CHEST. 149(2):315–352.
Risk Factors for Bleeding with Anticoagulant Therapy and Estimated Risk of Major ­Bleeding in Low-, Moderate-, and High-Risk categoriesa
Risk Factorsb
Age >65 y184-193
Age >75 y184-188,190,192,194-202
Previous bleeding185,191-193,198,201-204
Cancer187,191,195,198,205
Metastatic cancer181,204
Renal failure185,191-193,196,199,201,206
Liver failure186,189,195,196
Thrombocytopenia195,204
Previous stroke185,192,195,207
Diabetes185,186,196,200,202
Anaemia185,189,195,198,202
Antiplatelet therapy186,195,196,202,208
Poor anticoagulant control189,196,203
Comorbidity and reduced functional capacity191,196,204
Recent surgery189,209,c
Frequent falls195
Alcohol abuse191,192,195,202
Nonsteroidal anti-inflammatory drug210
Categorization of Risk of Bleedingd
 Estimated Absolute Risk of Major Bleeding
 Low Riske (0 Risk Factors)Moderate Riske (1 Risk Factor)High Riske (≥2 Risk Factors)
Anticoagulation 0–3 mof   
Baseline risk (%)0.61.24.8
Increased risk (%)1.02.08.0
Total risk (%)1.6g3.212.8h
Anticoagulation after first 3 mof   
Baseline risk (%/y)0.3i0.6≥2.5
Increased risk (%/y)0.51.0≥4.0
Total risk (%/y)0.8j1.6j≥6.5
AT9 = 9th Edition of the Antithrombotic Guideline.
aFrom AT9. Since AT9, references for bleeding with individual factors have been added193,206,210; nonsteroidal anti-inflammatory drug has been added as a risk factor; a systematic review has described the risk in VTE trial patients who were randomized to no antithrombotic ther­apy211; and several recent publications have compared clinical prediction rules for bleeding in various populations.193,212-216
bMost studies assessed risk factors for bleeding in patients who were on VKA therapy. The risk of bleeding with different anticoagulants is not addressed in this table. The increase in bleeding associated with a risk factor will vary with: (1) severity of the risk factor (eg, location and extent of metastatic disease; platelet count); (2) temporal relationships (eg, interval from surgery or a previous bleeding episode197); and (3) how effectively a previous cause of bleeding was corrected (eg, upper GI bleeding).
cImportant for parenteral anticoagulation (eg, first 10 d), but less important for long-term or extended anticoagulation.
dAlthough there is evidence that risk of bleeding increases with the prevalence of risk factors,187,188,192,194,195,196,198,201,202,204,217,218 the categorization scheme suggested here has not been validated. Further-more, a single risk factor, when severe, will result in a high risk of bleeding (eg, major surgery within the past 2 d; severe thrombocytopenia).
eCompared with low-risk patients, moderate-risk patients are assumed to have a twofold risk and high-risk patients are assumed to have an eightfold risk of major bleeding.79,185,187,189,195,196,198,204
fWe estimate that anticoagulation is associated with a 2.6-fold increase in major bleeding based on comparison of extended anticoagulation with no extended anticoagulation (Table 6 in AT91). The relative risk of major bleeding during the first 3 mo of therapy may be greater that during extended VKA therapy because: (1) the intensity of anticoagulation with initial parenteral therapy may be greater that with VKA ther­apy; (2) anticoagulant control will be less stable during the first 3 mo; and (3) predispositions to anticoagulant-induced bleeding may be ­uncovered during the first 3 mo of therapy.189,198,203 However, studies of patients with acute coronary syndromes do not suggest a higher than 2.6 relative risk of major bleeding with parenteral anticoagulation (eg, UFH, LMWH) compared with control.219,220
g1.6% corresponds to the average of major bleeding with initial UFH or LMWH therapy followed by VKA therapy (Table 7 in AT91). We estimat­ed baseline risk by assuming a 2.6 relative risk of major bleed­ing with anticoagulation (footnote f).
hConsistent with frequency of major bleeding observed by Hull in “high-risk” patients.209
iOur estimated baseline risk of major bleeding for low-risk patients (and adjusted up for moderate- and high-risk groups as per footnote e).
jConsistent with frequency of major bleeding during prospective stud­ies of extended anticoagulation for VTE.64,65,80,189,221
Rund 66% der Neoplasien können durch einfache ­diagnostische Tests (Anamnese, Status, Blutentnahme) gestellt werden. Die Anamnese führt unter den dia­gnostischen Massnahmen, die zu initialer Krebsdia­gnose durchgeführt wurden, am häufigsten zum ini­tialen Krebsverdacht bei bestätigten Fällen. Für die Patient:innen relevant ist jedoch nicht nur die Krebsdiagnose, sondern auch das Stadium der Pathologie. Hier konnte in einer Meta-Analyse gezeigt werden, dass durch das limitierte Screening rund 34% der Malignome in einem Frühstadium erkannt werden konnten, beim erweiterten Screening waren es rund 47%, was einem p-Wert von 0,30 entspricht und somit keinen klinisch signifikanten Unterschied ergab [6].
Aufgrund der fehlenden Evidenz für einen relevanten klinischen Nutzen des extensiven Screenings empfehlen aktuelle Richtlinien bei Patient:innen mit provozierten venösen Thromboembolien ein limitiertes Screening (gemäss NICE-Guidelines 2020). Keine weitergehende Krebsdiagnostik wird empfohlen, wenn bei den initialen Tests keine relevanten Befunde festgestellt werden konnten.
Ein erweitertes Screening kann bei Hoch­risiko­patient:innen (siehe Kasten 1) erwogen werden [4]. Ob dieses Vorgehen zu einer Reduktion der Mortalität oder Morbidität führen kann, ist jedoch noch unklar.

Kasten 1: RIETE Cancer Score

Copyright © 2021 American College of Chest Physicians. Jara-­Palomares L, Otero R, Jimenez D, et al. RIETE Investigators. ­Development of a Risk Prediction Score for Occult Cancer in ­Patients With VTE. Chest. 2017 Mar;151(3):564–571. doi: 10.1016/j.chest.2016.10.025. Epub 2016 Nov 1. PMID: 27815153.
Hochrisikopatient:innen für eine Krebserkrankung bei unprovoziertem thromboembolischen Ereignis:
Männliches Geschlecht +1
Alter >70J +2
Chronische Lungenerkankung +1
Anämie +2
Plättchen ≥350G/l +1
Frühere TVT –1
Kürzliche OP –2
Low risk: ≤2P (3,6% innert 2J)
High risk: ≥3P (11,8% innert 2J) [12].

Guideline Antikoagulation bei ­unprovozierten Lungenembolien

Das Mortalitätsrisiko nach thromboembolischem Ereignis beträgt rund 7,2% innert 6 Monaten [7]. Dabei steigt das Rezidivrisiko etwa um 11% pro Jahr an, ­Tendenz sinkend über die Zeit. Dabei liegt das kumulative Risiko für eine sekundäre VTE bei einer unprovozierten VTE mit rund 39% innerhalb des ersten Jahres im Gegensatz zur provozierten mit rund 6,6% etwa sechs Mal so hoch. Auch die geringeren 6,6% bei den provozierten VTE sollten mit Bedacht gewertet werden. Im Vergleich zu den unprovozierten VTE mag es zwar einen kleinen Teil ausmachen, dennoch liegt das Risiko deutlich höher als das spontane Thromboembolierisiko in der Allgemeinbevölkerung mit rund 0,1% [8].
Diese erste Unterscheidung zwischen provoziert und unprovoziert spielt für das weitere Vorgehen eine wesentliche Rolle, da die Guidelines entsprechend unterschiedliche Konzepte vorschlagen: eine provozierte VTE sollte nach Schema 3–6 Monate behandelt werden, bis die Rezidivrate signifikant abflacht. Bei den unprovozierten VTE konnte in der PADIS-Lungenemboliestudie nachgewiesen werden, dass eine Fortsetzung der Behandlung nach den initialen 3–6 Monaten z.B. mit Vit­amin-K-Antagonisten oder Rivaroxaban zu einer signifikant verminderten Rezidivrate führen konnte [9].

Take-home message: VTE/PE Treatment Guidelines 2021 [10]

  • Unprovozierte VTE: längerfristige Antikoagulation nach initialer Therapie von drei Monaten unter Voraussetzung eines niedrigen oder mittleren Blutungsrisikos mit jährlicher Reevaluation der Indikation. Therapie der Wahl: Vitamin-K-Antagonist (z.B. Warfarin) oder NOAK/DOAC (z.B. Xarelto® oder Eliquis®).
  • Bei unprovozierten VTE besteht die Möglichkeit, sofern keine Vitamin-K-Antagonisten oder DOAC verabreicht werden können, Aspirin 100 mg/d als Prophylaxe einzusetzen, sofern dafür keine Kontraindikationen bestehen. Aspirin bietet auch bei venösen Ereignissen einen partiellen Schutz, der allerdings Thrombosen nur zu 60–70% vorbeugen kann [11].
  • Provozierte VTE durch permanentes Krebsleiden, IBD oder das Antiphospholipid-Syndrom: Fortsetzung der Antikoagulation bis zur Heilung unabhängig vom Blutungsrisiko gemäss CHEST-Richtlinie [11, 12].
  • Provozierte VTE durch transiente Pathologien (Immobilisation, Operationen, Traumata, Schwangerschaft, Östrogentherapie): initiale orale Antikoagulation für 3–6 Monaten.
Jedes Jahr sollte zudem bei der Weiterführung der Antikoagulation eine Reevaluation betreffend Abwägung von Blutungs- und Thromboserisiko mit dem Patienten oder der Patientin stattfinden – denn die Herausforderung der Internist:innen besteht darin, hierbei die richtige Entscheidung zu treffen, trotz gewisser Unsicherheit des möglichen Ausgangs.
Jasmin Borer
Managing Editor
Primary and Hospital Care
EMH Schweizerischer ­Ärzteverlag
Farnsburgerstrasse 8
CH-4132 Muttenz
office[at]primary-hospital-care.ch
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3. Carrier, M. (2. 9 2008). Systematic review: the Trousseau syndrome revisited: should we screen extensively for cancer in patients with venous thromboembolism? . S. 149(5):323-33.
4. Jara-Palomares, L. et al (3 2017). Development of a Risk Prediction Score for Occult Cancer in Patients With VTE . S. 151(3):564-571.
5. Robertson, L. (23. 8 2017). Effect of testing for cancer on cancer- and venous thromboembolism (VTE)-related mortality and morbidity in people with unprovoked VTE . S. 8.
6. Van Es, N. e. (19. 9 2017). Screening for Occult Cancer in Patients With Unprovoked Venous Thromboembolism: A Systematic Review and Meta-analysis of Individual Patient Data. S. 167(6):410-417.
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