Interview mit Nationalrätin Ruth Humbel und Regierungsrat Urs Martin

Neue kantonale Qualitäts­anforderungen an Arztpraxen: Hilfestellung oder Bürokratie?

Aktuelles
Ausgabe
2021/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10391
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(05):144-145

Affiliations
a Geschäftsführer EQUAM Stiftung, Mitglied Qualitätskommission SGAIM; b Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Vorstandsmitglied mfe, Mitglied Qualitätskommission SGAIM

Publiziert am 04.05.2021

Mit der per 1. Juli 2021 in Kraft tretenden Teilrevision des Krankenversicherungs­gesetzes werden künftig die Kantone für die Zulassung von Leistungserbringern zur obligatorischen Krankenpflegeversicherung zuständig. An die Zulassung der Ärztinnen und Ärzte werden Voraussetzungen betreffend Sprachkenntnisse sowie Aus- und Weiterbildung geknüpft. Weniger bekannt ist, dass auch neue Qualitätsanforderungen an Arztpraxen zu erwarten sind. Die Vorlage der Verordnung schreibt unter anderem ein Qualitätsmanagementsystem vor.

Die Ärzteschaft setzt sich seit längerer Zeit für Qualität in der Medizin ein – zum Beispiel durch die Schweizerische Akademie für Qualität in der Medizin (SAQM/FMH) und die Qualitätskommission der SGAIM. Doch wie sehen dies die Politikerinnen und Politiker? Es diskutieren Nationalrätin Ruth Humbel und Regierungsrat Urs Martin. Das Interview wurde am 31. März 2021 geführt.

Zu den Personen

Ruth Humbel, lic. iur., ist seit 2003 Nationalrätin. Sie ist Präsidentin der nationalrätlichen Gesundheitskommission und ist u.a. auch Stiftungsratspräsidentin der EQUAM Stiftung.
Urs Martin, lic. rer. publ. HSG, ist seit 2020 Regierungsrat und Gesundheitsdirektor des Kantons Thurgau sowie Mitglied der nationalen Qualitätskommission Gesundheit.
Herr Martin, Frau Humbel – die Vorlage zur Verordnung enthält eine Vorschrift, dass Arztpraxen bei einem schweizweiten Critical Incident Reporting System (CIRS) teilnehmen müssen. Wird dies eine Realität?
Urs Martin (UM): Welchen Anreiz haben niedergelassene Ärzte, ein kritisches Ereignis zu melden? In einem Spital kann man dies vielleicht durchsetzen. In einer Arztpraxis wird jedoch kaum jemand ein Ereignis melden. Ärztinnen und Ärzte sind manchmal wenig selbstkritisch. Auf Papier kann man es festhalten, aber ich glaube, es ist ein Bürokratie-Tiger.
Ruth Humbel (RH): Es geht nicht um Fälle, wo Patienten gravierend zu Schaden kommen. Bei CIRS geht es um Verbesserungsmöglichkeiten im Interesse der Patientensicherheit. Wenn eine Ärztin bzw. ein Arzt Angst hat, dass es medial ausgeschlachtet wird oder dass Informationen bei einem Gerichtsverfahren zur Anwendung kommen könnten, ist das Vorhaben gescheitert. Gerade bei Gruppenpraxen sehe ich jedoch gute Chancen dafür. Es braucht Aufklärungsarbeit der ärztlichen Organisationen.
Wieso eigentlich ein nationales Netzwerk? Könnten es nicht kantonale Meldesysteme sein?
RH: Die Schweiz ist zu klein dafür, dass man für alle Kantone etwas Eigenes entwickelt. Man muss jedoch aufpassen, CIRS nicht mit Qualitätsmessung zu verwechseln. Es sollte ein gesamtschweizerisches Lerntool sein, über die Sprachgrenzen hinweg. Dabei ist es notwendig, dass eine Organisation eine Aufbereitung macht, die wichtigsten Punkte herausfiltert, aufarbeitet, erklärt und publiziert.
Die Vorlage der Verordnung schreibt ausserdem ein «geeignetes Qualitätsmanagementsystem» vor. Wie interpretieren Sie dies?
UM: Für mich ist es ein bürokratisches Monster. Was ist gemeint: Ein Feigenblatt in Form einer Zertifizierung oder tatsächlich ein Qualitätsmanagementsystem? Man kann auch Schwimmwesten aus Beton ISO-zerti­fizieren lassen. Ein richtiges Qualitätsmanagement­system würde ich sehr begrüssen.
RH: Wenn eine Zertifizierung praxisorientiert ist, den Ärztinnen und Ärzten auch eine Hilfestellung bietet und zur Selbstreflektion motiviert, hilft sie, Verbesserungsmöglichkeiten zu finden. Beispielsweise ist die Medikationssicherheit in der Arztpraxis ein zentraler Punkt.
UM: Braucht es dafür wirklich eine Zertifizierung oder müsste man Ärzte dazu zwingen, alles digital zu erfassen? Das Bundesparlament hat die Ärzte beim elektronischen Patientendossier entwischen lassen – das war ein grosser Fehler. Eigentlich sollte man Praxen dazu verpflichten, den E-Mediplan, der bei uns im Thurgau entwickelt worden ist, zu verwenden.
RH: Der Kanton Thurgau hatte bei der Praxiszulassung in der Vergangenheit Zertifizierungen erwähnt.
UM: Was für mich bei der Zulassung matchentscheidend ist, sind die Sprachkenntnisse und die Diplome. Mit diesen zwei Dingen ist schon viel erfüllt. Ich habe nichts dagegen, wenn es noch weitere Vorgaben gibt. Es darf einfach nicht bürokratisch sein.
RH: Natürlich will auch ich nicht Bürokratie. Wenn jedoch die Kantone die Steuerungsmöglichkeit wollen, müssen sie die Verantwortung auch wahrnehmen. In der Vergangenheit kam es wiederholt vor, dass ein Arzt in einem Kanton eine Praxis eröffnen konnte, obwohl die Bewilligung von einem anderen Kanton entzogen worden ist. Sowas darf einfach nicht mehr geschehen. Die Kantone werden also neben der Sprache auch die qualitativen Anforderungen überprüfen müssen. Die meisten Ärztinnen und Ärzte arbeiten ja gut – diese dürfen nicht behindert oder administrativ noch stärker belastet werden.
UM: Das aktuelle Problem ist, dass man sich zu sehr auf Prozesse stützt. Outcomes werden nirgendwo gemessen, obwohl der Bundesrat seit 1998 zur Einführung einer ambulanten Qualitätssicherung verpflichtet wäre. Eigentlich müssten die Versicherer verbindlich in ­einem Tarifvertrag festlegen, dass Ärztinnen und Ärzte weniger erhalten, wenn sie nicht Transparenz liefern.
RH: Wenn man von Qualitätsmanagementsystemen spricht, geht es auch um die Nutzung der Prozesse im Interesse der Patientinnen und Patienten. Indikationsqualität und Ergebnisqualität sind aber tatsächlich entscheidende Elemente der patientenzentrierten ­Medizin. Kantone sollten dies berücksichtigen. Wir ­haben das zweitteuerste Gesundheitssystem der Welt. Ob jemand gute Qualität bringt oder nicht – er erhält heute die gleiche Finanzierung. Da muss man ansetzen. Effizienz und Effektivität gehören zusammen.
Was ist Ihre konkrete Nachricht an Ärztinnen und Ärzte oder Unternehmen, die in Zukunft eine neue Praxis eröffnen möchten?
UM: Das Gesetz sollte schlank angewendet werden. Ich kann jedoch nicht nachvollziehen, dass man in jedem Restaurant nachschauen kann, was gut und was schlecht ist, aber wenn es ans Eingemachte geht, ist es eine Blackbox. Jede Ärztin / jeder Arzt kann mir sagen: «Zu dem oder dem Kollegen musst du nicht gehen, der ist nicht gut». Es ist jedoch schwierig für einen Kanton, eine Zulassung zu entziehen. Viel einfacher wäre es, dies mit Qualitätsverträgen zu steuern. Praxen dürften quasi nicht mehr abrechnen, wenn sie die Qualität nicht bringen.
RH: Der Anhang von TARMED zur Qualitätssicherung ist 20 Jahre leer geblieben. Es besteht ein Verdacht, dass sich die FMH der Qualität verweigert. Weder Bund noch Versicherer hatten die gesetzliche Vorgabe ­betreffend Qualitätsvereinbarungen durchgesetzt. Urs – was erwartest du von den Versicherern und von der FMH?
UM: Ich erwarte, dass man sich dem Thema Qualität mehr annimmt und nicht bloss darüber spricht. Von der FMH erwarte ich, dass sie nicht mehr nur Qualitäts­behauptungen macht, nur um ein paar wenige schwarze Schafe zu schützen.
RH: Berufsverbände wie die FMH oder SGAIM sollten griffige Vorschläge mit Substanz bringen, die nicht einfach ein Feigenblatt sind. Vorschläge, welche die Bereitschaft zu Qualitätsmanagement und zu Messungen aufzeigen, erhalten auf jeden Fall Gehör! Es darf jedenfalls nicht sein, dass eine Organisation in der Qualitätskommission Fortschritt zu verhindern versucht. Besonders die Hausärztinnen und -ärzte müssen einen Schritt nach vorne machen und sagen, wie sie Qualitätssicherung in der Praxis sehen.
Claudia Schade
Kommunikations­verantwortliche und ­stellvertretende General­sekretärin Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM)
Monbijoustrasse 43
Postfach
CH-3001 Bern
claudia.schade[at]sgaim.ch

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