Eine lohnende Lektüre
Nicht nur ein halbes Jahrhundert fachärztlicher Bildung und Erfahrung sind in dieses Buch eingegangen. Die Autorin hat sich einen eigenen Weg im weiten Feld der Psychiatrie und Psychotherapie gebahnt und dabei ein geglücktes Mass Unabhängigkeit von ihren Lehrern bewiesen, sodass ihre Lehre von der daseinsanalytischen Traumdeutung eine originale Kreation geworden ist.
Der kundige Leser findet in Uta Jaenickes eingängig und verständlich geschriebenem Buch die Freud’sche Traumlehre und Traumdeutung durchaus enthalten. Ein Seitenhieb gegen den Freud’schen Diskurs stammt meines Erachtens aus der Schule von Medard Boss, der oft gehässig gegen Freud argumentierte. So steht auf Seite 18: «Mit diesem hermeneutischen Phänomenologiebegriff hat die Daseinsanalyse die Möglichkeit, wie Freud von einem verborgenen Sinn der Traumphänomene auszugehen, obwohl sie phänomenologisch bei den Sachen selbst bleibt – ‹entgegen allen freischwebenden Konstruktionen (Heidegger (1927), S. 28)›». Wenn wir in der genannten Referenz «Sein und Zeit» nachlesen [1, S. 28], finden wir an dieser Stelle keine Nennung Freuds und auch keine Anspielung auf ihn. Vielmehr ist Heidegger in bester Freud’scher Manier Vertreter des «zu den Sachen selbst!» [1, S.27], wenn er sich gegen die «freischwebenden Konstruktionen, zufälligen Funde(n) […] Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen» [1, S. 28] etc. ausspricht.
Uta Jaenicke distanziert sich von ihrem Lehrer Boss (S. 305 ff), indem sie, vereinfacht gesagt, das Interesse mehr auf die je einmalige Person des Patienten legt, während Boss sich mehr auf die Frage verlegt hatte, wie sehr der Patient neurotisch in seiner Freiheit eingeschränkt ist (S. 305 f). Das Interesse für die Person mit all ihren manifesten und verborgenen Zügen ist der Traumauslegung zugänglich und therapeutisch gewinnbringender als nur das Feststellen der krankhaften Einengung, die sich in der Traumerzählung zeigt.
Lesen wir das letzte, dreizehnte Kapitel «Für die Praxis» (S. 313 ff), finden wir, wie auch in den vorangegangenen Kapiteln, dass die Autorin mit der (Freud’schen) theoretischen Ausrichtung und Technik in vielem übereinstimmt. Nur die wohlbekannte, allgemein vorherrschende Kritik an der Daseinsanalyse, beziehungsweise an der Vorgehensweise von einzelnen Daseinsanalytiker:innen, kann in abgemilderter Form auch zu diesem Buch vorgebracht werden: Wenn der therapeutische Prozess zu einer Idealisierung des Therapeuten führt, und diese nicht im weiteren Verlauf aufgelöst wird, bleibt im Patienten ein Autonomiedefizit hängen.
Das Traumbeispiel auf Seite 28 zeigt, wie es der Autorin und ihrer Patientin Anna gelingt, aufgrund der Assoziationen zum Traum eine einleuchtende und quasi vollständige Deutung des Traumes zu finden. Hier kann nicht auf den ganzen Ablauf eingegangen werden, aber das Beispiel eignet sich zur Illustrierung der Nähe oder Distanz der hier vertretenen daseinsanalytischen Methode zur Freud’schen Traumdeutung. Uta Jaenicke betont, die phänomenologische Methode erlaube nicht, auf beliebige freie Assoziationen abzustellen; die Einfälle müssten vielmehr «eng auf den Traum und dessen Stimmung bezogen» sein. Die hier referierten Assoziationen zum Traum, in welchem die Träumerin versucht, ihr Bett mit einem Stück Kuchenteig zu beziehen, sind: «Sheet – Leintuch – Papierblatt – paper – schriftliche Arbeit». Der «Bezug» des Bettes erweist sich als Anspielung auf den gestörten «Bezug» zur schriftlichen Arbeit fürs Studium. Sie empfand ihre Arbeit ebenso fruchtlos, wie das Bemühen im Traum, mit dem Teigstück das Bett zu beziehen. Der Witz in diesem Traum würde ein Freudianer veranlassen, nach möglicher aggressiver Problematik zu suchen. Die Patientin ist allerdings wegen Depression in Behandlung, sodass die Aggression bei ihr wohl eine verdrängte ist. Das Auslassen der Freud’schen Triebtheorie und der infantilen Sexualität in der daseinsanalytischen Methode hindert die Autorin nicht daran, der Patientin therapeutisch gerecht zu werden, wenn auch vielleicht auf komplizierteren Wegen. Wenn die Aggression in der Übertragung im Traum allenfalls erkennbar, aber in der Interaktion mit der Therapeutin (noch) nicht deutlich wird, kann es dauern, bis sie im therapeutischen Prozess zur Durcharbeitung gelangt. Die angenehme Atmosphäre in der idealisierten (therapeutischen) Beziehung kann den analytischen Prozess verzögern.
So viel sei für die Leser:innen gesagt – die Autorin weiss das sehr wahrscheinlich schon – aber ihr Anliegen ist, wie auf Seite 22 erklärt: «Sehen wir, wie weit wir kommen, wenn wir uns zunächst nur streng an den phänomenologischen Grundsatz halten, die manifesten Traumphänomene nicht umzudeuten, sondern sie in jedem Detail ernst zu nehmen. Dazu gehört in erster Linie das Beachten der Stimmung».
Die bleibende und nach wie vor Ärger erzeugende Einsicht Freuds war aber gerade die, dass hinter der sichtbaren Szene (das «hinter den Dingen» tadelte Boss lautstark) eine verborgene Szene zu finden ist, die im Zuge der Bearbeitung der Widerstände für das bewusste Denken des Patienten zugänglich wird.
Nun finden wir in Jaenickes Buch Belege dafür, dass sie diesem Freud’schen Prinzip doch auch entsprechen kann, wenn es die Situation erfordert, zum Beispiel derjenigen Tanjas, die träumt, ihre Schwester sage ihr, «mach nicht immer das Gleiche wie ich» (S. 134). Im Manifesten bemüht die Patientin sich um Autonomie und wirkt der Schwester entgegen; deshalb wundert sie sich über den Traum, der die umgekehrte Situation nahelegt. Die geistreiche Auslegung – die wir hier nicht wiedergeben können – weist nach, dass der Traum genau der emotionalen Tendenz der Patientin entspricht, was aber nicht im manifesten Traum, sondern, wie Freud sagen würde, im latenten Traumgedanken enthalten ist.
Das Buch enthält Schätze, die zu heben sich lohnt. Nicht nur, dass sie uns etwas von der phänomenologischen Schule vermitteln, sondern auch der Reichtum an Patiententräumen und anderen, wie den Träumen von Xerxes vor seinem Feldzug gegen die Griechen (S. 135 ff), bietet lohnende Lektüre.
Uta Jaenicke: Traumdeutung
Theorie und Praxis der Traumauslegung in der Daseinsanalyse. Berlin: Springer; 2022. 320 Seiten, EUR 40.00. ISBN 978-3-662-64924-4
1 Heidegger M. Sein und Zeit. 9 Aufl. Tübingen: Max Niemeyer Verlag; 1960.

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