Was selbstverständlich scheint – aber nicht ist

Briefe / Mitteilungen
Édition
2022/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20530
Bull Med Suisses. 2022;103(06):182

Publié le 08.02.2022

Was selbstverständlich scheint – aber nicht ist

Kollege Tapernoux ärgert sich zu Recht über inflationäre Tendenzen bei der Schaffung von neuen Labels. Er geht davon aus, dass die Einhaltung der Regeln der Standesregeln eine Selbstverständlichkeit sei. Ich muss ihn leider enttäuschen. Nach 24 Jahren als internis­tischer Chefarzt, sechs Jahren Präsidium einer kantonalen Ärztegesellschaft und im Anschluss daran ebenso viele Jahre in Ombudsfunktion habe ich erfahren müssen, dass bei einer wachsenden Zahl von FMH-Mitgliedern viele Bestimmungen der Standesordnung kaum bekannt oder toter Buchstabe sind. Dazu kommt ein externer Dilutions-Faktor: der stetig wachsende Anteil unselbständig erwerbstätiger Ärztinnen und Ärzte, welche in Gruppenpraxen und Kliniken nicht selten ­einer kruden unternehmerischen Logik ausgesetzt sind. Ein Stichwort mag genügen, um das Phänomen zu beschreiben: «Incentives». Dazu gehören Leistungsanreize, welche geeignet sind, die Konzentration auf die ärztliche Aufgabe zu beeinträchtigen. Das FMH-Label «responsible practice» ist gewiss für einzeln praktizierende Grundversorger oder Spezialisten «alter Schule» nicht interessant, da gebe ich Herrn Kollege Tapernoux gerne recht. Das ­Label und seine neun aus der Standesordnung «destillierten» Standards dienen insbesondere in grösseren Gruppenpraxen, Praxisgruppen, Instituten und Kliniken (der Begriff «practice» gilt selbstverständlich auch für ärztliche Tätigkeit in klinischen Settings) dazu, die Wahrnehmung des FMH-Regelwerks zu wecken, den Blick für unsinnige, fachlich, ärztlich-ethisch, betriebswirtschaftlich wie gesundheitsökonomisch kontraproduktive Zielvorgaben der Unternehmensführung zu schärfen und die Resistenz und Resilienz der dort tätigen Ärztinnen und Ärzte zu stärken. Mit dem ­Erwerb des Labels unterstellt die Unternehmung ihre ärztlichen Mitarbeitenden der Standesordnung der FMH, selbst wenn diese mehrheitlich nicht FMH-Mitglieder sind. Gefordert werden dadurch nicht nur die Unternehmungen selbst, sondern die FMH-Basis­organisationen mit ihren Ombudsstellen, Ehrenräten und Standeskommissionen. Diese können sich schon heute nicht über Mangel an Arbeit beklagen, und wenn auch Nicht­mitglieder zur «Kundschaft» hinzukommen, wird die «Auftragslage» nicht kleiner, aber das neue Label hat das Potenzial, über eine grös­sere öffentliche Sichtbarkeit unserer berufsethischen Regeln deren Durchsetzung und Einhaltung zu sichern und mittelfristig auch die wachsende Beschwerde-Flut einzudämmen.

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