Schon vor hundert Jahren heiss diskutiert

Ärzteschaft und Tierversuche

Horizonte
Édition
2022/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20505
Bull Med Suisses. 2022;103(07):228-230

Affiliations
Dr. phil., Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte

Publié le 15.02.2022

Vor hundert Jahren kam im Kanton Zürich eine Initiative zum Verbot von Tier­versuchen zur Abstimmung. Die Ärzteschaft formierte umgehend Widerstand. Schliesslich ging es hier aus ihrer Sicht um nichts weniger als einen Angriff auf die wissenschaftliche Medizin. Eine historische Reflexion über die politische ­Positionierung der Ärzteschaft.
Sollen praktizierende Medizinerinnen und Mediziner in der Ausübung ihres Berufs politisch neutral sein, ­sobald sie rein standespolitisches Terrain verlassen? Ein Beispiel: Der Klimawandel brachte jüngst ein breites Spektrum an Meinungen hervor. Reaktionen reichten vom Plädoyer der FMH-Präsidentin Yvonne Gilli, sich auf standespolitische Themen zu fokussieren und von umweltpolitischen Stellungsnahmen abzusehen, bis hin zur Forderung nach mehr umweltpolitischem Engagement der Ärzteschaft oder gar der Forderung nach ­einer Scientific Task Force «Klima und Biodiver­sität» [1].
Aber wo sind eigentlich die Grenzen der standespoli­tischen Themen?
Zum Thema Tierversuche jedenfalls wurde in der Schweizerischen Ärztezeitung (SÄZ) keine grosse Dis­kussion geführt [2]. Dies war nicht immer so. Gerade in den ersten Jahren der Zeitschrift ab 1920 war die Vivisektion eines von mehreren Themen, die Beiträge provozierten und die Ärzteschaft zu politischem Handeln innerhalb und ausserhalb der medizinischen Praxis verleiteten.

Zur Bedeutung des Begriffs Vivisektion

– Der Begriff «Vivisektion» ist eine Zusammensetzung der lateinischen Wörter sectio (das Zerschneiden) und vivi (des Lebenden). Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Begriff eine Sammelbezeichnung für experimentelle Versuche an Tieren.
– In der Forschung wurde der Begriff im Verlaufe des 20. Jahrhunderts allerdings zunehmend durch den neutraleren Begriff «Tierversuch» (auf Französisch expérimentation sur les animaux) ersetzt. Auch in der Gesetzgebung wurde nicht von «Vivisektion» gesprochen.
– Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist «Vivisektion» überwiegend ein politischer Kampfbegriff, der durch den wört­lichen Hinweis auf den Versuch am lebenden Tier eine emotionale Wirkung erzielt.

Verteidigung der Wissenschaft

Die Vivisektion gehörte zu mehreren Themen, von ­denen sich die Ärzteschaft in den frühen 1920er Jahren in Bedrängnis gebracht fühlte. Zunächst einmal war da die gefürchtete «Knechtung des schweizerischen Aerztestandes» durch die Sozialversicherungen, eine zen­trale Motivation für die Gründung der SÄZ [3]. Ebenso drängend waren verschiedene Angriffe auf die wissenschaftliche Medizin durch Naturheiler, Impfgegner und Antivivisektionisten. Grund zur Sorge gab beispielsweise, dass im Kanton Graubünden im April 1922 eine Initiative zur «Ausübung der giftfreien Kräuterheilmethode», die sogenannte Bündner Kurpfuscherinitiative, deutlich angenommen worden war [4].
Eine ähnliche Initiative kam auch in Baselland am 17. August 1924 durch, obwohl die Initiative in einer ­Abstimmung des Sanitätsrats, des Regierungsrats und einer landrätlichen Kommission keine einzige Ja-Stimme erhalten hatte. Die Initianten forderten eine Besserstellung der Naturheilkunde auf Kosten der wissenschaftlichen Medizin, etwa Positionen in öffent­lichen Ämtern und die Gleichstellung von Naturheilpraktikern mit patentierten Ärzten. Die Stimmung war zudem erhitzt, weil der Bundesrat 1923 eine Pockenschutzimpfpflicht beschlossen hatte, im Zuge derer bereits Impfverweigerer gerichtlich verurteilt wurden. Und Impfungen zählten für die Initianten natürlich zu den Heilmethoden, die Gifte verwendeten.
Als 1922 auch noch im Universitätskanton Zürich die lokale Sektion des Weltbundes zur Abschaffung der ­Vivisektion eine Tierversuchsinitiative einreichte, war das Mass voll. Gegen das «Initiativbegehren für Abschaffung der Vivisektion (Tierfolter)» wurde sofort ein hochkarätiges Gegenkomitee gebildet. Es galt, die wissenschaftliche Medizin vor einem empfindlichen Angriff zu verteidigen.

Der Widerstand formiert sich

Auf Initiative des damaligen Dekans der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich, Physiologieprofessor Walter Rudolf Hess, fand eine erste konspirative Sitzung im physiologischen Institut statt. Anwesend waren Vertreter von Universität und ETH, von der kantonalen Sanitäts- und Erziehungsdirektion, von der Naturforschenden Gesellschaft Zürich, von der Gesellschaft der Ärzte des Kantons Zürich und der ­Gesellschaft der Zürcher Tierärzte. Die folgende konzertierte Aktion war beispielhaft: Geplant waren öffentliche Vorträge und Zeitungsartikel, Gutachten über die tatsächlich stattfindenden Tierversuche, Briefe an die Vertreter des Kantonsrats sowie Führungen durch verschiedene Labors. Ausserdem wurden die protestantische und die katholische Kirche über persönliche Kontakte angegangen.
Wissenschaftler im Ausland wurden über ihre Erfahrungen im Kampf gegen Antivivisektionisten befragt, darunter auch ganze Institutionen wie der United ­States Public Health Service oder die American Medical Association. In den zahlreichen Artikeln, die bald in Zürcher Zeitungen erschienen, wurden insbesondere die Leistungen der modernen Medizin mit speziellem Fokus auf Infektionskrankheiten beschworen.
Bald übernahm Hans Kern, Stadtrat und Präsident der Demokratischen Partei, den Vorsitz des Komitees. Als Redaktoren amtierten Exponenten der Bauernpartei sowie der Freisinnigen Partei, weitere Parteien sagten ihre Unterstützung für die Abwehraktion zu. Einzig die Kommunistische Partei wollte man nicht dabei­haben. Angesichts dieser überparteilichen und institutionellen Allianz war auch die Finanzierung des Wahlkampfs kein Problem: Wenige Monate vor der Abstimmung schoss die Julius Klaus-Stiftung noch mehrere tausend Franken ein, und auch die Firma Hoffmann-La Roche unterstützte den Abwehrkampf finanziell.
Antivivisektionisten stiessen in Physiologielehrbüchern auf brauchbares Material zur ­Illustration ihrer Flugblätter.

Lehren aus dem Abstimmungskampf

Für den Kanton Zürich war die Tierversuchsinitiative von 1924 insofern relevant, als gleichzeitig zwei weitere Initiativen zum Gesundheitswesen vorbereitet wurden: die Naturheilinitiative, die vergleichbare Dinge forderte wie in anderen Kantonen, und die In­itiative zu einem neuen Zahntechnikergesetz, das in eine ähnliche Richtung im Bereich der Zahntechnik zielte. Insbesondere in Kombination mit der Naturheil­initiative galten die Vorstösse als Angriffe auf die wissenschaftliche Medizin: «Erfolg oder Misserfolg dieser Initiative [würde] ein wichtiges Präjudiz sein für die folgenden Abstimmungen.» Aus diesem Grund sollten sich alle an der «persönliche[n] Aufklärung des Volkes» beteiligen [5]. Als die Initiative scheiterte, wurde in der SÄZ erleichtert festgestellt: «Der Angriff gegen die wissenschaftliche Heilkunde wurde […] mit Wucht zurückgewiesen» [6].
In einem Resümee im Anschluss an die Abstimmung von 1924 schrieb Hess: «Als für die Zukunft wichtig erachten die Politiker, dass von Seiten der wissenschaft­lichen Vertreter auch unabhängig von Propagandanotwendigkeit der Mittelpresse gelegentliche Artikel zur Verfügung gestellt werden, damit das Volk, auch dasjenige auf dem Lande, nicht nur von der Universität hört, wenn es für dieselbe mit Stimme oder Geld eintreten muss» [7]. Passenderweise war in der SÄZ bereits bei der verlorenen Abstimmung in Baselland eine Hypothese aufgestellt worden: Es herrsche eine grundsätzliche «Abneigung gegen ‘Gstudierte’», darum seien auch «Gefühlsmomente» wichtiger gewesen als Fakten aus dem politischen Abstimmungskampf [8].
In diesem Sinne rief der Präsident des Zentral-Vorstands Max Fingerhuth anlässlich des Schweizerischen Ärztetags 1925 dazu auf, weiterzukämpfen, weil die abgewehrten und verlorenen Abstimmungen «nur eine Etappe vorstellt[en] in der Reihe von Stürmen, welche als Nachkriegswehen gegen Wissenschaft und Medizin erfolgen» würden [9].

Und heute?

Vergleichbare Tierversuchsinitiativen waren auch später stets chancenlos. Dies lag unter anderem am Aktivismus der betroffenen Institutionen und Verbände. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte zunehmend mit, dass Tierversuche für den Standort Schweiz wirtschaftlich und auch wissenschaftlich von grosser Bedeutung waren. Keine der folgenden Initiativen, die ab dem eidgenössischen Tierschutzgesetz von 1978 neu auf nationaler Ebene stattfanden, hatte Erfolg.
Kurz vor der ersten nationalen Abstimmung über ­Tierversuche im Jahr 1985 wurde die Durchführung ­eines thematischen Nationalen Forschungsschwerpunkts durch den Schweizerischen Nationalfonds beschlossen: Ab 1984 beschäftigte sich das Nationale Forschungsprogramm (NFP) 17 mit «Alternativmethoden zum Tierversuch». Dies war vonseiten der Wissenschaft und der Medizin taktisch klug eingefädelt, weil damit indirekt ein Versprechen zur Vermeidung von Tierversuchen kommuniziert wurde – eigentlich ganz im Sinne von Hess und seiner Forderung nach mehr Öffentlichkeitsarbeit durch die Ärzteschaft.
Auch jetzt wieder existiert wie vor 38 Jahren ein entsprechendes NFP: das NFP 79 «Advancing 3R – Tiere, Forschung und Gesellschaft». Die Empfehlung zur ­Ablehnung der Volksinitiative «Ja zum Tier und Menschenversuchsverbot», die von der FMH im Juni 2021 an­lässlich der Sommersession im Ständerat empfohlen wurde [10], ist daher ein anderes «Nein» als vor hundert Jahren. Es ist nicht mehr eine Verteidigung von Tierversuchen um jeden Preis, sondern signalisiert ein «Ja» zum schrittweisen Übergang zu alternativen ­Forschungsmethoden.
Gleich geblieben ist allerdings die Frage nach den ­Dimensionen der ärztlichen Standespolitik, wenn sich politische Stürme über der Wissenschaft und der ­Medizin zusammenbrauen und es gilt, koordinierte Informations- und Aufklärungs­arbeit zu leisten.
leander.diener[at]uzh.ch
 1 Gilli Y. «Health in all policies», aber nicht «All policies in health». Schweiz Ärzteztg. 2021;102(26):868. Aufdereggen B. Für mehr ­Engagement der FMH in der Umweltpolitik. Schweiz Ärzteztg. 2021;102(40):1290–2. Martin J. Une Task force fédérale «Climat et biodiversité»? Schweiz Ärzteztg. 2021;102(10):362–3.
 2 Taverna E. Das Tiermodell. Schweiz Ärzteztg. 2002;83(25):1331–2. Gruber FP, et al. Tierschutz und Wissenschaft. Schweiz Ärzteztg. 2004;85(24):1291–5. Steiger A. Ethische Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche. Schweiz Ärzteztg. 2006;87(19):832–7. Deutsch M, et al. Tierversuche – immer mehr wissenschaftliche Studien bezweifeln deren Nutzen. Schweiz Ärzteztg. 2007;88(31–32):1293–6. Taverna E. Tierversuche. Schweiz Ärzteztg. 2012;93(33):1193. ­Ritter A. «So exotisch sind wir nicht». Schweiz Ärzteztg. 2019;100(29–30):998–1000.
 3 Trüeb H. Zum Geleit! Schweiz Ärzteztg. 2020;191(1–2):40. ­Abdruck von 1920.
 4 Anon. Die bündnerische Initiative der «giftfreien Kräuterheil­methode». Schweiz Ärzteztg. 1922;20:176–7.
 5 «Akten des Gegenkomités». Staatsarchiv Zürich.
 6 Anon. Abstimmung über die Antivivisektionsinitiative im Kanton Zürich. Schweiz Ärzteztg. 1924;5(4):315.
 7 «Akten des Gegenkomités». Staatsarchiv Zürich.
 8 G. Der Sieg der Kurpfuscher im Kanton Baselland. Schweiz Ärzteztg. 1924;35(5):301–5.
 9 Fingerhuth M. Ansprache des Präsidenten des Zentral-Vorstandes der Verbindung der Schweizer Aerzte, Dr. M. Fingerhuth, am Schweizerischen Aerztetag 1925. Schweiz Ärzteztg. 1925;25:219.
10 Sommersession 2021. Gesundheitspolitische Standpunkte und Empfehlungen der FMH. www.fmh.ch/files/pdf25/empfehlungen-der-fmh-sommersession-2021.pdf

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