Patientenschutz in der Schweiz

Nulltoleranz für Fehlverhalten

Tribüne
Édition
2022/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20467
Bull Med Suisses. 2022;103(08):256-258

Affiliations
a PD Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Dienste Graubünden, Chur; b PD Dr. med. Dr. phil., Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich, Zürich; Abteilung Klinische Ethik, Universitätsspital Basel, und Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Basel; c Prof. em. Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Fakultät, Universität Basel, Basel

Publié le 22.02.2022

In jüngerer Zeit wurde vermehrt über Kontrollmöglichkeiten der professionellen ärztlichen Berufsausübung in der Schweiz diskutiert. Wo beginnt ärztliches Fehlverhalten, und wie kann es verhindert werden? Ein Überblick über den aktuellen Stand in der Schweiz.
Professionell gestaltete therapeutische Beziehungen unterscheiden sich fundamental von persönlichen ­Beziehungen. Ärztinnen und Ärzte sind für eine korrekte Diagnostik, Indikation und Behandlung darauf angewiesen, dass Patientinnen und Patienten ihnen äusserst persönliche Informationen anvertrauen. Das ist nur möglich, wenn alle Angaben vertraulich behandelt und im Interesse der Behandlung verwendet werden.
Zu einer professionellen Beziehungsgestaltung gehört, dass die Behandlung in einem definierten Rahmen stattfindet, entsprechend über gültige Tarife honoriert wird, sich an den aktuellen wissenschaftlichen Standards ausrichtet und rechtskonform abläuft [1]. Es liegt immer in der Verantwortung der Fachperson, für die Einhaltung der professionellen und ethischen Standards besorgt zu sein, selbst wenn eine Patientin oder ein Patient etwas anderes wünscht oder signalisiert [2].
Leitlinien für professionelles Verhalten in der Medizin sind inzwischen von verschiedenen Fachgesellschaften publiziert und in zahlreiche Aus- und Weiterbildungskonzepte integriert worden. Wie bei anderen Leitlinien in der Medizin stellt sich jedoch die Frage, wie diese in die Praxis übersetzt und gelebt werden.

Wann liegt ärztliches Fehlverhalten vor?

Auch wenn angenommen werden kann, dass die Mehrheit der ärztlichen Fachpersonen die mit ihrer beruf­lichen Rolle verbundenen ethischen Anforderungen kennt und einhält, müssen für einen wirksamen ­Pa­tientenschutz und zur Verhinderung möglicher ­Vertrauensverluste in die ganze Profession unprofes­sionelle Verhaltensweisen schnell erkannt und entsprechende Massnahmen ergriffen werden können.
Unprofessionell und moralisch unangemessen ist das Verhalten von Ärztinnen und Ärzten, wenn es primär durch eigene Bedürfnisse – sei es finanzieller, emotionaler, sexueller oder ideologischer Art – motiviert ist und kein therapeutisches oder diagnostisches Ziel verfolgt [3]. Dabei ist es unerheblich, ob für die Patientinnen resp. Patienten ein tatsächlicher Schaden entstanden ist [4]. Unprofessionelles Verhalten kann aus einer bewussten Verletzung berufsethischer Regeln, aus ­Unkenntnis oder aus Fahrlässigkeit resultieren und ist von Nebenwirkungen oder Komplikationen ­einer ­Therapie zu unterscheiden.
Manche dieser Verhaltensweisen sind relativ leicht zu erkennen und zu sanktionieren (z.B. Abrechnungs­betrug oder sexueller Missbrauch), bei anderen kann dies deutlich schwieriger sein (z.B. bei emotionalem Missbrauch). Ab wann ist zum Beispiel eine Beziehung in der Psychotherapie als missbräuchlich zu bewerten – schon, wenn in der Therapie Persönliches ausgetauscht wird oder erst, wenn Treffen ausserhalb der Therapie stattfinden?
In diesem Zusammenhang wird in vielen berufsethischen Kodizes vor sogenannten Mehrfachbeziehungen gewarnt, da diese zu Interessenkonflikten führen können [5]. Mehrfachbeziehungen können hauptsächlich dann entstehen, wenn die ärztliche Fachperson:
(1) gleichzeitig in einer anderen Beziehung zu der zu behandelnden Person steht bzw. ihr gegenüber eine zusätzliche, nicht-medizinische Rolle innehat; (2) gleichzeitig in einer professionellen Beziehung zu einer verwandten oder anderweitig nahestehenden Person der Patientin oder des Patienten steht oder (3) wahrscheinlich oder praktisch sicher zu einem zukünftigen Zeitpunkt mit der Patientin oder dem Patienten oder einer mit ihr oder ihm verwandten respektive anderweitig nahestehenden Person in eine weitere Beziehung treten wird [5].
Mehrfachbeziehungen sind für Ärztinnen und Ärzte mancher Fachrichtungen (z.B. hausärztliche und päd­iatrische Fachpersonen) vor allem in ländlichen Regionen nicht immer vermeidbar. In solchen Konstella­tionen sollte darauf geachtet werden, dass sich die Mehrfachbeziehung(en) auf das zur Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung notwendige Mass beschränken und nicht schleichend auf andere Bereiche (z.B. finanzielle Verpflichtungen oder Angestelltenverhältnisse) ausweiten. Für psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen ist eine solche Flexibilität aufgrund der Besonderheiten der therapeutischen Beziehung bzw. des resultierenden Abhängigkeitsverhältnisses allerdings sehr kritisch zu sehen und sollte vermieden werden.
Ärztliches Fehlverhalten kann auch dann vorliegen, wenn für die Patientin oder den ­Patienten kein tatsächlicher Schaden entstanden ist.

Situation in der Schweiz

Das Medizinalberufegesetz (MedBG) regelt die Voraussetzungen für die Ausübung der eigenverantwortlichen Tätigkeit von Angehörigen universitärer Medizinalberufe [6]. Seit dem 1. Januar 2018 müssen sich in der Schweiz tätige Ärztinnen und Ärzte in ein öffentlich zugängliches Register (MedReg) eintragen lassen, das unter anderem Informationen über Personendaten, fachliche Qualifikation, Sprachkenntnisse und Vorliegen einer Berufsausübungsbewilligung sowie allfällige Disziplinarmassnahmen enthält [7].
Die Standesordnung der FMH formuliert die ärztlichen Berufspflichten und berufsethischen Richtlinien in der Schweiz [8]. Verstösse werden durch die Standeskommissionen der kantonalen Ärztegesellschaften bzw. die Standeskommission der FMH untersucht und gegebenenfalls sanktioniert. Auf Basis des Strafrechts kann für bewilligungspflichtige Berufe ein vollständiges oder teilweises Tätigkeitsverbot verhängt werden, wenn eine Person in Ausübung einer beruflichen Tätigkeit ein Verbrechen oder Vergehen verübt, das mit ­einer Freiheitsstrafe von über sechs Monaten (bzw. Geldstrafe über 180 Tagessätze) bestraft wurde und wenn Rückfallgefahr besteht [9].
Patientinnen und Patienten können sich vor und während Behandlungen über Fachpersonen informieren und vermutetes ärztliches Fehlverhalten bei den zuständigen Behörden (Gesundheitsämter bzw. Staats­anwaltschaften) anzeigen. Beschwerde- bzw. Ombudsstellen der kantonalen Ärztegesellschaften üben dabei eine beratende Funktion aus, können aber keine rechtsverbindlichen Entscheide oder Sanktionen treffen.
Die Ärztegesellschaften Basel-Stadt und Baselland ­haben eine Patientenanlauf- und -beratungsstelle für Betroffene sexuellen oder emotionalen Missbrauchs durch ärztliche Fachpersonen mit Notfalltelefonnummer eingerichtet [10]. Der Aargauische Ärzteverband hat auf seiner Website ein Patientenmerkblatt zum Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen publiziert, auf dem ebenfalls Kontaktstellen genannt werden [11]. Die anderen Kantone haben unseres Wissens bisher keine entsprechenden Informationen veröffentlicht.

Was in anderen Ländern getan wird

In den USA werden zugelassene Ärztinnen und Ärzte namentlich und mit Informationen über Qualifikation und allfällige Disziplinarmassnahmen auf staatlichen Websites publiziert. In einigen Bundesstaaten sind Angehörige ärztlicher und therapeutischer Berufe dazu verpflichtet, (Verdachts-)Fälle von sexuellem Missbrauch zu melden. Wer der Meldepflicht nicht nachkommt, kann selbst wegen unprofessionellen Verhaltens belangt werden [12].
Auch in Kanada besteht eine Meldepflicht für ärztliche Fachpersonen, wenn sie Kenntnis von sexuellem Missbrauch von Patientinnen oder Patienten durch Angehörige eines bewilligungspflichtigen Medizinalberufs erlangen [13].
Die Ärztegesellschaft in Grossbritannien hat verschiedene Leitfäden zu professionellem Verhalten ver­öffentlicht, die die allgemeinen medizinethischen Normen situationsbezogen in konkrete Handlungsempfehlungen übersetzen [14], unter anderem bezüglich Meldepflicht von sexuellem Missbrauch [15].
In Australien kann jede Person bei der Zulassungsbehörde für Gesundheitsberufe eine Meldung über den Gesundheitszustand, das Verhalten oder die Leistung einer Gesundheitsfachperson machen. Bestimmte Personengruppen (z.B. Mitarbeitende des Gesundheits­wesens) haben eine Meldepflicht u.a. für (Verdachts-)Fälle von signifikanter Abweichung von professionellen Standards oder sexuellem Missbrauch [16].

Nötige Massnahmen

Die Einführung des Medizinalberuferegisters ist ein wichtiger Schritt zu mehr Transparenz. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei allerdings dem Informationsgrad der Patientinnen und Patienten zu, die wissen müssen, dass es dieses Register gibt und wie sie darauf zugreifen können. Ziel sollte es sein, dass Personen, die negative Erfahrungen mit einer ärztlichen Fachperson machen, niederschwellig prüfen können, ob deren Verhalten richtlinienkonform war und welche Melde­möglichkeiten es gibt.
Hierfür scheint ein breiterer Zugang der Öffentlichkeit zu Informations- und Meldesystemen sinnvoll, der auch auf unterschiedliche Bildungs-, Sprach- und Medienkompetenzen Rücksicht nimmt. Der Patientenschutz sollte zusammengefasst durch folgende Massnahmen ausgebaut werden:
– Vereinfachte Informations- und Meldemöglichkeiten für Betroffene
– Nulltoleranz gegenüber schwerwiegenden Grenzverletzungen und strafrechtlich relevantem Verhalten von Gesundheitsfachpersonen
– Meldepflicht für Angehörige von Medizinalberufen bei Kenntnis von schwerem und möglicherweise strafrechtlich relevantem Fehlverhalten von Berufskolleginnen und -kollegen
– Kantonsübergreifendes einheitliches Vorgehen und Informationsaustausch
– Datenerhebung zu Disziplinar- und Strafverfahren gegen Gesundheitsfachpersonen
– Veröffentlichung juristisch verifizierter Verstösse in einem für Patientinnen und Patienten leicht zugänglichen Register
– Forschung zu Umsetzung und Wirksamkeit unterschiedlicher Massnahmen (Aufklärung, Ausbildung, Supervision, Kontrolle, Sanktionen) zur Vermeidung unprofessionellen ärztlichen Verhaltens
Zentral erscheint das aktive Anstossen eines Kulturwandels in der Medizin, damit Missbrauch und unprofessionelles Verhalten nicht toleriert werden. Offene oder stillschweigende Toleranz gegenüber Grenz­verletzungen und strafbarem Verhalten erodiert die professionelle Kultur und damit das Vertrauen der ­Öffentlichkeit in das gesamte Gesundheitssystem.

Das Wichtigste in Kürze

• Ärztliche Fachpersonen sind dafür verantwortlich, dass bei Konsultationen die professionellen und ethischen Standards eingehalten werden.
• Unangemessenes ärztliches Verhalten liegt vor, wenn es primär durch eigene Bedürfnisse motiviert ist und kein therapeutisches oder diagnostisches Ziel verfolgt wird.
• Patientinnen und Patienten können vermutetes Fehlverhalten bei den zuständigen Behörden anzeigen. Wichtig dafür ist ein möglichst einfacher Zugang zu Informationen über ärztliche Fachpersonen, z.B. über das Medi­zinalberuferegister (MedReg).
• Die Autorinnen und Autoren fordern weitere Massnahmen zum Ausbau des Patientenschutzes, darunter die Einführung einer Meldepflicht für ärztliche Fachpersonen bei Kenntnis von Fehlverhalten durch Berufskolleginnen und -kollegen.

L’essentiel en bref

• Les médecins sont chargés de faire respecter des standards professionnels et éthiques en consultation.
• Le comportement des médecins est jugé inapproprié s’il est motivé en premier lieu par des intérêts per­sonnels et ne poursuit pas de but thérapeutique ou diagnostique.
• Les patients peuvent signaler un comportement médical inapproprié auprès des autorités compétentes. Pour ce faire, il existe le registre des professions médicales (MedReg), qui permet d’accéder facilement aux informations sur le corps médical.
• Des mesures en faveur de la protection des patients doivent être prises, estiment les auteurs de l’article. Parmi celles-ci, l’introduction d’une obligation de signalement pour les membres des professions médicales qui ont connaissance d’un comportement fautif de la part de leurs collègues.
irina.franke[at]pdgr.ch
 1 Gabbard GO, Nadelson C. Professional boundaries in the physician–patient relationship. JAMA. 1995;273(18):1445–9.
 2 Franke I, Riecher-Rössler A. Professional Conduct and Handling Misconduct in Psychotherapy: Ethical Practice between Boundaries, Relationships, and Reality, in: The Oxford Handbook of Psychotherapy Ethics, Trachsel M, et al. (Hrsg.). Oxford: Oxford University Press; 2021.
 3 Simon RI. Clinical psychiatry and the law. American Psychiatric Pub. 2003.
 4 Nadelson C, Notman MT. Boundaries in the doctor–patient relationship. Theoretical medicine and bioethics. 2002;23(3):191–201.
 5 American Psychological Association. Ethical Principles of Psychologists and Code of Conduct. 2002 [abgerufen am 27.10.2021]. https://www.apa.org/ethics/code/
 6 Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Medizinalberufegesetz. 23. Juni 2006 (Stand am 1. Februar 2020) [abgerufen am 15.5.2021]. https://fedlex.data.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/cc/2007/537/20200201/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-cc-2007-537-20200201-de-pdf-a.pdf
 7 Schweizerische Eidgenossenschaft. Medizinalberuferegister [abgerufen am 15.5.2021]. https://www.medregom.admin.ch/
 8 Foederatio Medicorum Helveticorum (FMH). Standesordnung [abgerufen am 15.5.2021]. https://www.fmh.ch/files/pdf7/standesordnung-fmh.pdf
 9 Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Bundesgesetz über das Tätigkeitsverbot und das Kontakt- und Rayonverbot vom 13. Dezember 2013 [abgerufen am 15.5.2021]. https://www.fedlex.admin.ch/eli/oc/2014/355/de
10 Medizinische Gesellschaft Basel [abgerufen am 15.5.2021]. https://www.medges.ch/fuer-patienten.html
11 Aargauer Ärzte. Positionspapier für Patienten: Sexuelle Übergriffe [abgerufen am 15.5.2021]. https://www.aargauer-aerzte.ch/files/1215/4503/3297/Positionspapier_fuer_Patienten_Sexuelle_Uebergriffe_2018-12-17.pdf
12 King PA. Taking Action: How the FSMB’s New Policy on Physician Sexual Misconduct Was Developed. Journal of Medical Regulation. 2020:106(2):15–6.
13 College of Physicians and Surgeons of Ontario. Mandatory and Permissive Reporting: Sexual abuse [abgerufen am 15.5.2021]. https://www.cpso.on.ca/Physicians/Policies-Guidance/Policies/Mandatory-and-Permissive-Reporting#sexual-abuse
14 General Medical Council (GMC UK). Ethical guidance for doctors: professionalism [abgerufen am 12.6.2021]. https://www.gmc-uk.org/ethical-guidance/ethical-guidance-for-doctors#professionalism
15 General Medical Council (GMC UK). Ethical guidance for doctors: sexual behaviour and your duty to report colleagues [abge­rufen am 12.6.2021]. https://www.gmc-uk.org/ethical-guidance/ethical-guidance-for-doctors/sexual-behaviour-and-your-duty-to-report-colleagues
16 Australian Health Practitioner Regulation Agency. Guidelines: Mandatory notifications about registered health practitioners [abgerufen am 12.6.2021]. https://www.ahpra.gov.au/Notifications/mandatorynotifications/Mandatory-notifications.aspx

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