Epidemiologische Massnahmen vor 100 Jahren

Zivile Grippe-Notspitäler in Herisau

Horizonte
Édition
2021/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.20271
Bull Med Suisses. 2021;102(5152):1735-1737

Affiliations
schneider-history AG, Gemeindearchiv Herisau

Publié le 21.12.2021

Gegen Ende des 1. Weltkrieges, in Zeiten grosser Lebensmittelknappheit, Teuerung und sozialer Spannungen, wurde die Schweiz von einer schweren Grippeepidemie heimgesucht. Weil die Spitäler zu überlasten drohten, entstanden vielerorts Grippe-Notspitäler. In Herisau liessen die Behörden 1918 sowie 1920 ein solches Notspital errichten. Der Blick zurück offenbart Parallelen zur heutigen Pandemiesituation.
Im Kanton Appenzell Ausserrhoden verzeichnete im Juli 1918 allein die Gemeinde Herisau über 500 zivile Grippefälle, zu denen in der Kaserne noch weitere 206 grippekranke Soldaten und Offiziere kamen. Die Behörden entschieden deswegen, die Sommerschulferien zu verlängern, und untersagten die sonntäglichen Gottesdienste, sonstige religiöse Versammlungen, grös­sere Vereinsversammlungen, Personenansammlungen und sämtliche Konzertveranstaltungen. In der Folge gingen die Ansteckungen zurück, und die Einschränkungen konnten teilweise gelockert werden.
Daraufhin schnellten die Infek­tionszahlen im September abermals in die Höhe. Am 2. Oktober wurde der Gemeinderat daher darüber informiert, dass die Grippe­erkrankungen «in erschreckender Weise zugenommen» hätten [1]. Erneut war man zum Handeln gezwungen, und es wurden dieselben Verbote wie ­bereits beim erstmaligen Auftreten der Grippe im Sommer erlassen.

Überlastetes Spital

Ungefähr zeitgleich dazu teilte die Krankenhausleitung dem Hauptmann-Amt mit, dass das Krankenhaus «mit einer Patientenzahl von 126 übervoll» sei, obschon nur «chirurgisch» absolut notwendige Eingriffe durchgeführt würden [2]. Um die Überlastung des Bezirkskrankenhauses zu verhindern, wurde die Errichtung eines Notspitals unausweichlich. Auf Anraten der erweiterten Epidemienkommission entschied man sich für die Arbeitsanstalt Kreckelhof, deren Insassen vorübergehend in der Kaserne untergebracht werden sollten.

Eröffnung des ersten Notspitals

Tatsächlich konnte am 26. Oktober in Herisau das «Grippe-Notspital des Bezirkes Hinterland» mit zwölf leichtkranken Grippepatientinnen und Grippe­patienten eröffnet werden. Eine Einheitstaxe von Fr. 3.50 pro Tag wurde festgelegt und galt für Selbstzahlende, Armengenössige und Kassenpatientinnen und -patienten gleichermassen.
Im Herbst 1918 bestanden in Herisau mit der Kaserne, dem Bezirksspital, dem Grippe-Notspital und dem Bürgerasyl mehrere Einrichtungen, die sich um die Grippe­kranken kümmerten. Zudem konnte die «Gemein­dekrankenpflege» zahlreiche Personen zu Hause ­betreuen.

Organisation und Ausstattung

Zum Präsidenten der Notspital-Kommission wurde der Chefarzt des Bezirkskrankenhauses, Dr. med. Eggenberger, ernannt. Für die Pflege zuständig waren u.a. ein Arzt und mehrere von der Oberschwester beaufsichtigte ­Samariterinnen. Im Grippe-Notspital Kreckelhof gab es zwei nach Geschlechtern getrennte Etagen. Über die Personalien, Aufenthaltsdauer und bezahlende Stelle der Erkrankten wurde ebenso sorgfältig Buch geführt wie über die Ausstattung des Notspitals.
Zum Krankenmobiliar gehörten etwa 2 Spiritusapparate mit Pfännchen, 10 Bettschalen, 10 kleine Spucktöpfe, 10 grosse Spucknäpfe, 36 Fieberthermo­meter, mehrere Urinflaschen und eine nicht näher genannte Anzahl Schutzmasken.
Hinweisschild aus Karton für die Kennzeichnung des im Notspital eingerichteten Büros.
Die Produkte und Materialien für den Betrieb konnten hauptsächlich bei lokalen Geschäften bestellt werden. Beispielsweise bezog das Spital aus einer Apotheke in Herisau Leukoplast, Baldrian, Kodeintabletten, Iodtinkturen, Aspirin, Aether, ein Diphtherie-Serum, das entzündungshemmende und fiebersenkende Medi­kament Pyramidon und viele weitere Präparate mit Namen wie Digalen, Digifolin oder Septacrol.
Einen Beitrag für die Einrichtung des Notspitals leistete zudem die lokale Bevölkerung. In einem Zeitungsinserat der Appenzeller Zeitung wurde nach Personen gesucht, die bereit waren, dem Notspital Gesellschaftsspiele oder «guten Lesestoff» auszuleihen [3]. Hilfsbereit zeigte sich eine Frau Hermine Koller. Sie überliess dem Grippe-Notspital nicht nur mehrere Brettspiele und ein Buch, sondern anerbot auch unentgeltlich «schriftliche Hand- und Schreib­maschinenarbeiten», um für die «Gripp-Station» und «Notunterstützung» etwas leisten zu können [4].

Vorübergehende Beruhigung der Lage

Als sich gegen Ende des Jahres die Lage wieder ver­besserte, konnte das Notspital am 23. Dezember auf­gehoben werden. Insgesamt versorgte es an 59 Tagen 67 Grippepatientinnen und Grippepatienten, allesamt leichtere Fälle oder Genesende. Die Gesamtkosten für das Spital beliefen sich auf Fr. 7936.40. An das Betriebsdefizit von Fr. 4030.80 bezahlten der Bund und der Kanton Fr. 3032.10. Eine ungenannte Person spendete 1000 Franken, womit die Kosten für das Notspital in der ­Arbeitsanstalt Kreckelhof gedeckt werden konnten. Im April 1919 galt die Epidemie dann als «erloschen».

Erneuter Ausbruch

Im Februar 1920 kam es allerdings erneut zu einem starken Anstieg der Ansteckungen. Gemeldet wurden insgesamt 219 Fälle, darunter 11 mit Lungenentzündungen. Diesmal wurde das Notspital in der Kaserne eingerichtet. Es betreute zwischen dem 27. Februar und dem 17. März knapp 20 Patientinnen und Patienten mit leichteren Krankheitsverläufen.
Danach war die Grippeepidemie endgültig ausge­standen. Sie war für die Gemeinde zweifellos ein einschneidendes Ereignis. Dabei waren sich Behörden und Bevölkerung schon lange vor Ausbruch der Grippe im Sommer 1918 bewusst, welche Gefahren von Infektionskrankheiten ausgehen konnten.

Massnahmenkatalog

In ­Herisau kam es im April 1916 etwa zu zahlreichen Scharlach-Erkrankungen, woraufhin der Gemeindehauptmann an die Schulkommission schrieb, es seien «unnötige Schüleransammlungen» zu vermeiden und auf die Ostergesangsfeier müsse leider verzichtet werden [5]. Auch weitere Massnahmen wie Isolierungen und die Anzeige- und Desinfektionspflicht waren bei Ausbruch der Grippe hinlänglich bekannt.
Mit der kantonalen Sanitätskommission, der Ortsgesundheitskommission, der Epidemienkommission, der Gemeindekrankenpflege, den Gemeindeärzten und dem Samariterinnenverein standen 1918 zudem verschiedene Gremien und Fachkräfte für die Bekämpfung der Epidemie zur Verfügung.
Die von ihnen ergriffenen Massnahmen halfen während der Grippeepidemie zwar mit, Schlimmeres zu verhindern, trotzdem gab es auch in Herisau mehrere Grippetote zu beklagen. Ein tragisches Schicksal ereilte eine junge Pflegerin aus Quarten. Nachdem sie sich beim Samariterinnenverein gemeldet hatte, ­erkrankte sie bei der Arbeit selbst an der Grippe und verstarb im Bezirkskrankenhaus.

Parallelen zu heute

Aus heutiger Sicht bemerkenswert sind im Zusammenhang mit dem Auftreten der Grippe in den Jahren 1918 und 1920 die zahlreichen Parallelen zu den aktuellen Diskussionen. Dass die Schulen eine Gefahr darstellten, wusste man schon damals. Der Gemeindehauptmann warnte vor ihrer Wiedereröffnung, weil dadurch die «Epidemie sofort wieder aufflackern» würde. Er empfahl, mit der Öffnung bis zum sicheren Rückgang der Epidemie zuzuwarten, auch wenn es nachvollziehbar sei, «dass ein grosser Teil der Eltern die Wiedereröffnung der Schulen im Interesse der Beaufsichtigung und der Wiederbeschäftigung der Kinder» wünsche. Auch über Schüler, die trotz Grippe zur Schule gingen, wurde geklagt. Das galt etwa für den Schulbezirk Saum, wo erkrankte Kinder nicht zu Hause blieben und deswegen neue und «schwere Fälle» verzeichnet wurden [6].
Gleich wie heute bestand auch vor 100 Jahren ein gros­ses Informationsbedürfnis. Regelmässig mussten die Ärzte den Behörden die neuen Grippefälle rapportieren, und zur Orientierung der Bevölkerung druckte die Gemeinde 4000 Grippemerkblätter, die sie der Tagwacht sowie der Lokalausgabe der Appenzeller Zeitung beilegen liess. Und schliesslich blieben auch Klagen über allzu harte Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern oder über mangelndes Pflegepersonal nicht aus.
Blatt für die Eintragung der Körpertemperatur der Grippepatientinnen und –patienten.

Widerstand gegen das Gottesdienstverbot

Kritisch betrachtet wurden nach einer gewissen Zeit verschiedentlich die erlassenen Verbote. So heisst es in den Protokollen des Gemeinderates vom 4. November 1918: «Die Kirchen-Vorsteherschaft, sowie die Vorstände der Methodisten- und Baptistengemeinde und der Heilsarmee stellten das Gesuch betr. Bewilligung zur Wiedereröffnung des Gottesdienstes, unter Hinweisung darauf, dass für einen grossen Teil der Be­völkerung das Bedürfnis für die religiöse Sammlung bestehe. Die Gesuchsteller sind der Meinung, dass die Wiedereröffnung des Gottesdienstes bei reduziertem Betriebe, ohne Gesang und bei abgekürzter Predigt auch bei uns bewilligt werden könnte, indem die ­Ansteckungsgefahr nirgends geringer sei als in der ­Kirche, in welcher die Leute nicht miteinander reden, alle nach derselben Richtung sehen und der Prediger sich in gehöriger Distanz von den übrigen Personen befinde.»
Ab dem 10. November 1918 waren in Herisau die Gottesdienste wieder zugelassen, allerdings nur unter strengen Auflagen. Dazu zählte eine abgekürzte Predigt, die Vorschrift einer guten Lüftung und Reinigung sowie das Gesangsverbot für Gemeinde und Chöre. Dieses blieb auch an Weihnachten 1918 bestehen.
Immerhin durften kleinere Gruppen bis zu maximal zwölf Personen Lieder vortragen, allerdings nur bei ­genügender Distanz zu den übrigen Kirchenbesucherinnen und Kirchenbesuchern. Auf die Spendung des Abendmahls musste an der Weihnachtsmesse von 1918 gänzlich verzichtet werden.
Die Vorgaben bezüglich des Raum­klimas betrafen übrigens nicht allein die Kirchen. Auch die Wiedereröffnung des Kinos an der Bahnhofstrasse wurde nur unter dem Vorbehalt «genügender Lüftung, Reinigung und der möglichst weiten Platzierung der Besucher» gestattet [7].

Eine neue Bedrohung

Die hier geschilderte Grippeepidemie forderte in der Schweiz tausende Opfer. Sie liess Herisau wie viele andere Gemeinden nicht unverschont. Und kaum war sie im Frühjahr 1920 ausgestanden, drohte auch schon die Ausbreitung einer anderen Infektionskrankheit. Die Rede ist von der heute nahezu vergessenen Pockenepidemie, welche die Schweiz ab dem Winter 1921/22 heimsuchen sollte und gegen die von der Direktion des Bezirkskrankenhauses erste Massnahmen ergriffen wurden. Der Gemeinderat begrüsste diese in seiner ­Sitzung vom 12. Dezember 1921 ausdrücklich, denn die Pocken seien bereits in Flawil und im Rheintal aufgetreten und hätten besonders im Kanton Glarus «ganz bedeutende Dimensionen angenommen» [8].
Alexander Lekkas
Meinrad-Lienert-Strasse 27
CH-8003 Zürich
1 Gemeindearchiv Herisau (GAH), A.163.65, S. 148 (Protokollbuch Gemeinderat).
2 GAH, A.163.65, S. 181 (Protokollbuch Gemeinderat).
3 GAH, B.6.12-01-09-03 (Akten).
4 GAH, B.6.12-01-02 (Akten).
5 GAH, B.1.57-51 (Akten).
6 GAH, A.163.65, S. 113, 206-207, (Protokollbuch Gemeinderat).
7 GAH, A.163.65, S. 207, 223, 304 (Protokollbuch Gemeinderat).
8 GAH, A.163.68, S. 381 (Protokollbuch Gemeinderat).

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