Mut zur Transformation

Schwerpunkt
Ausgabe
2024/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1502130070
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(33-34):

Affiliations
a Dr. med, Co-Präsidentin mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz, b Dr. med, Präsidentin JHaS Jungen Haus- und KinderärztInnen Schweiz

Publiziert am 14.08.2024

Nachwuchsförderung
Die Schweiz verfügt über ein hochwertiges Gesundheitssystem, dessen Qualität von der Bevölkerung geschätzt wird. Fehlende Generalisten sowie ungünstige Strukturen, könnten der adäquaten Patientenversorgung zum Verhängnis werden. Die Autorinnen zeigen auf, wie wir das Problem angehen können.
Generalistinnen und Generalisten, arbeiten im Spannungsfeld einer fraktionierten Versorgung.
© Tmcphotos / Dreamstime
Ambulantisierung, Fachkräftemangel, zunehmende Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten sowie die immer komplexer werdenden Bedürfnisse als Antwort auf ein System, das uns aufgrund des demografischen Wandels und die zunehmender Multimorbidität vor komplexe Herausforderungen stellt. Anstelle der «Götter in Weiss» von gestern braucht es «Multifunktions-Talente» und «Spezialisten fürs Allgemeine». Generalistinnen und Generalisten, welche komplexe und unklare Beschwerden beurteilen, einen Grossteil davon effizient und abschliessend behandeln und bei Bedarf an spezialisierte Leistungserbringer weiterweisen können – sowohl stationär wie ambulant. Und last but not least zuverlässig Mitverantwortung übernehmen für die langfristige Betreuung und Koordination von Menschen, die medizinische Hilfe benötigen. Gemeinsam mit einem interprofessionellen Team und den Patientinnen und Patienten sollen die Generalistinnen und Generalisten im stetig komplexer werdenden Gesundheitswesen koordinierend, begleitend und mit verschiedenartigen Hilfestellungen zur Verfügung stehen.

Die aktuelle Versorgungsrealität läuft leider in die gegenläufige Richtung. Generalistinnen, arbeiten im Spannungsfeld einer fraktionierten Versorgung.

Alltagsspagat

Die aktuelle Versorgungsrealität läuft leider in die gegenläufige Richtung. Generalistinnen und Generalisten, arbeiten im Spannungsfeld einer fraktionierten Versorgung. Gleichzeitig versuchen sie zwischen Organ- und krankheitsspezifischen Leitlinien und hochspezialisierter Maximierung auszutarieren und dabei Akzente für eine smarte Optimierung und Koordination mit humanistischem und holistischem Ansatz zu setzen. Sie vermissen Evidenzen, welche sich nicht nur auf einzelne Messwerte, Krankheiten oder Organe beschränken, sondern nebst Gesamtkontext und Patientenpräferenzen auch Risiken und den Kostenaspekt mitberücksichtigen. Evidenzen kommen nun allmählich (zum Beispiel «smarter medicine»), sind aber noch zu wenig und zu unverbindlich in der Versorgung verankert. Generalistinnen und Generalisten stehen heutzutage unter enormem Druck. Die Entwicklung der Allgemeinen Inneren Medizin sowie der Hausarztmedizin ist an einem Scheidepunkt angelangt, dessen Chancen es für eine qualitativ gute Patientenversorgung (auch) in Zukunft zu nutzen gilt.

Aus- und Weiterbildung im Wandel

Traditionell ist unsere Aus- und Weiterbildung grossmehrheitlich auf die stationäre Medizin und universitäre Strukturen mit spezialisierten Kliniken ausgerichtet. Das Berufsbild wird also hauptsächlich von grundversorgungsfernen Dozierenden geprägt. Obschon 54% der Ärztinnen und Ärzte (FMH-Statistik 2023) im praxisambulanten Bereich arbeiten. Beides zusammen beeinflusst in hohem Masse die angestrebten Berufsziele des Nachwuchses und steht in Diskrepanz zu den an die Ärztinnen und Ärzte gestellten Anforderungen im Berufsalltag.
Das Weiterbildungsprogramm Allgemeine Innere Medizin regelt die Weiterbildung, der Spitalinternisten -internistinnen sowie jenes der Hausärzte und -ärztinnen. Trotz der Entwicklung von Hausarztinstituten an allen Universitäten und der Förderung der Praxisassistenz, bleibt die Weiterbildung AIM bis heute zu spitalorientiert und bildet die künftigen Arbeitsumfelder und Anforderungen der Titelträger AIM nur ungenügend ab.
Heutige Diskussionspunkte sind das notwendige A-Klinikjahr, welches für Spitalinternistinnen, Hausärzte und Hausärzte obligatorisch ist und das Minimum von 6 Monaten ambulanter Weiterbildung (auch im spitalambulant möglich) - sprich 10% der Weiterbildung. Praxisassistenzprogramme werden mit entsprechender Finanzierung durch das WHM und mittels kantonaler Programme gefördert, stehen aber schweizweit in regional sehr unterschiedlichem Ausmass und nur ungenügend zur Verfügung. Nicht alle künftigen Hausärztinnen und -ärzte kommen während der Weiterbildungszeit in den Genuss einer Praxisassistenz. Im Hinblick auf eine ganzheitliche Betreuung mit vulnerablen Transitionsprozessen rund um Spital Ein- und -Austritte, könnte diese Praxisassistenz auch für künftige Spitalinternisten und -internistinnen eine Bereicherung sein. Im Moment findet eine Neuausrichtung der Aus- und Weiterbildung zu kompetenzbasiertem Lernen statt. Das muss sich in der klinischen Realität abbilden. Für das Erlernen von Langzeitbetreuung, kontextabhängigem «clinical reasoning» und systemischem Arbeiten im interprofessionellen Umfeld der Praxis bräuchte es einen entsprechenden Ausbau der ambulanten Aus- und Weiterbildungsangebote.

Mehr Studienabschlüsse allein reichen nicht aus. Die Weiterbildung muss den Bedürfnissen der Bevölkerung und den Zielsetzungen des KVG entsprechen.

Notwendige Entwicklungsschritte

Die demographische, medizinische und politische Entwicklung konfrontiert uns mit Herausforderungen und eröffnet gleichzeitig Chancen. Ständig gibt es neue Evidenz zu wichtigen Fragen, dabei verlagert sich der Fokus von rein medizinischen Betrachtungen auf komplexere Strukturen. Demographische Entwicklungen und die Versorgungsstruktur sollten daher immer miteinbezogen werden.

Bei diesem Punkten müssen wir ansetzen:

1. Anzahl Studienplätze erhöhen
Die Schweiz verstösst mit ihrer hohen Auslandabhängigkeit gegen den WHO-Code of Practice. 40% der praktizierenden Ärzteschaft hat ihr Arztdiplom im Ausland erworben, Tendenz steigend. Zudem zeigt die Workforce-Studie von mfe und dem IHAM Basel, welche seit 2005 alle 5 Jahre durchgeführt wird, die bedrohliche Ärztedemographie unter der Hausärzteschaft. Zurzeit ist jede zweite Hausärztin und oder Kinderarzt über 55 Jahre alt. Der Studie nach sinkt die Workforce in den nächsten 10 Jahren also rapide. Eine aktuelle Mitgliederumfrage der SGAIM zeigt, dass diese Entwicklung auch im spitalinternistischen Umfeld stattfindet. Die Erhöhung der Studienplätze muss aber zwingend mit einer Steigerung der AIM Abschlüsse einhergehen.
2. Bedarfsgerechte Aus- und Weiterbildung
Mehr Studienabschlüsse allein reichen nicht aus. Die Weiterbildung muss den Bedürfnissen der Bevölkerung und den Zielsetzungen des KVG entsprechen. Das KVG fordert «ambulant vor stationär». Deshalb muss die Weiterbildung in qualitativ guten ambulanten Weiterbildungsstätten stattfinden. Junge Ärztinnen und Ärzte sollen vermehrt Fachbereiche wählen, die unser Gesundheitssystem am dringendsten benötigt. Sie müssen dafür bestmöglich vorbereitet sein.
Die Zahl qualitativ guter Praxisassistenzstellen und Lehrärztinnen und -ärzte muss erhöht werden. Regionalspitäler und Hausarztpraxen sind gefordert, ihr Zusammenarbeitspotenzial auszuschöpfen um gemeinsam genügend Grundversorgerstellen anzubieten. So können sie den zunehmenden Wegfall der Landspitäler, welche in der Aus- und Weiterbildung der Hausärzte eine wichtige Rolle gespielt haben ersetzen. Hausarztspezifische Aus- und Weiterbildung erhöht nicht nur die Kompetenz in der Hausarztmedizin, sondern stellt durch die Workforce der Weiterbildungsassistenten und -asstistentinnen zusätzlich eine relevante, personelle Verstärkung der Hausarztmedizin dar.
3. Rahmenbedingungen, welche die medizinische Grundversorgung fördern
Dazu gehören attraktive und zeitgemässe Arbeitsbedingungen, ohne bürokratischen Unsinn. Mit der soeben durch den Bundesrat neu genehmigte Tarifstruktur TARDOC können nun hoffentlich die wuchtigen tarifarischen Fehlanreize im Gesundheitswesen beseitigt werden. Das Image der Grundversorgerdisziplinen darf nicht durch Lohnungleichheiten oder betriebswirtschaftliche Unsicherheiten negativ beeinflusst werden. Dies muss sowohl im ärztlichen Tarifwerk sowie den kantonale und nationalen Finanzierungsstrukturen entsprechend berücksichtig werden. Das beinhaltet unter anderem auch, dass «generalistische» stationäre und ambulante Aus- und Weiterbildung gleichermassen unterstützt und gefördert werden.
Dr. med. Monika Reber Co-Präsidentin mfe der Haus- und KinderärztInnen Schweiz
Dr. med. Linda Habib Präsidentin JHaS, Junge Haus- und KinderärztInnen Schweiz
m.reber[at]zapp.ch
Conflict of Interest Statement
Dieser Beitrag wurde von Dr. med. Monika Reber zur Verfügung gestellt. Die Schweizerische Ärztezeitung und Swiss Medical Forum übernehmen für den Inhalt keine Verantwortung. 

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