Neues Parlament, neue Bundesrätin, neue Finanzierung, neuer Wind?

Neues Parlament, neue Bundesrätin, neue Finanzierung, neuer Wind?

Leitartikel
Ausgabe
2024/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1317684699
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(1-2):24-25

Publiziert am 10.01.2024

Entscheidende Weichenstellungen
Das neue Jahr 2024 wird von wegweisenden gesundheitspolitischen Entscheidungen geprägt sein. Die aktuellen Entwicklungen in Finanzierung, Tarifierung und Digitalisierung sowie die Volksabstimmung zur Kostenbremse werden die zukünftige Patientenversorgung prägen.
Yvonne Gilli Dr. med., Präsidentin FMH
Als die Stimmbevölkerung im Oktober 2023 ein neues Parlament wählte, bestimmte es über die Basis der nationalen Politik – und damit auch der Gesundheitspolitik. Die neuen Sitzverteilungen mit neuen Parlaments- und Kommissionsmitgliedern werden die Zukunft unseres Gesundheitswesens prägen. Und dieses neu gewählte Parlament traf gleich in seiner ersten Session eine Entscheidung von enormer Tragweite: Es verabschiedete die bereits seit 14 Jahren diskutierte Reform zur einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (EFAS). Bis zuletzt wurde dieses wichtige Vorhaben massiv angegriffen – einschliesslich grosser Schlagzeilen und Referendumsdrohungen. Im Parlament erwiesen sich die Gegner dann jedoch als zwar laute, aber kleine Minderheit. Im Nationalrat überstimmte eine komfortable Mehrheit von 141 Personen 42 Gegnerinnen und Gegner. Im Ständerat unterlagen gerade einmal drei Gegner der Reform (Maillard, Hurni, Sommaruga) den 42 EFAS-Befürwortenden.

EFAS macht Mut

Mit dieser Entscheidung ist ein Meilenstein erreicht, für den sich sehr viele Akteure des Gesundheitswesens – darunter auch die FMH – seit Langem mit viel Herzblut eingesetzt haben. Die Entscheidung für EFAS wird nicht nur Fehlanreize beseitigen, die integrierte Versorgung fördern und Prämienzahlende entlasten. Sie macht vor allem auch Mut, dass sich der langjährige proaktive Einsatz für Verbesserungen lohnen kann und sinnvolle Reformen zum Erfolg gelangen können. Hier gebührt dem Parlament grosser Dank dafür, dass es mit hohem Einsatz in vielen Verhandlungen um gute Lösungen gerungen hat – und den am Ende gefundenen Kompromiss grossmehrheitlich mitgetragen hat. Es hat sichergestellt, dass mit EFAS nun Schritt für Schritt die jeweils erreichbaren Verbesserungen umgesetzt werden können, zuerst für die medizinischen Leistungen und anschliessend, wenn die Grundlagen dafür bereit sind, für die pflegerischen Leistungen. So hat das Parlament grosse Fortschritte ermöglicht. Es hat anerkannt, dass keine Reform alle Probleme sofort für alle Beteiligten perfekt und für immer lösen kann – auch EFAS nicht. Doch wer diesen Anspruch stellt, wird nie Verbesserungen erreichen. Entscheidend ist nur, dass der Nutzen eindeutig grösser ist als die Nachteile.

Chance für den TARDOC

Eine wichtige Neuerung für das Gesundheitswesen ergab sich auch aus der neuen Departementsverteilung des Bundesrats. 2024 wird Elisabeth Baume-Schneider das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) übernehmen, wo viele wichtige Dossiers auf sie warten. Unter anderem steht die Entscheidung über die Zukunft des ambulanten Arzttarifs an. Hier bietet sich nun die grosse Chance, die Neuordnung der Finanzierung um eine sachgerechte Tarifierung zu ergänzen – und auf diese Weise die kostengünstigste Versorgungsform nachhaltig zu stärken. Bei einer zeitnahen Genehmigung des TARDOC hätte die Grundversorgung bereits ab Januar 2025 ein eigenes Hausarztkapitel. Die Begleitung chronisch Kranker, palliativmedizinische Betreuung oder digitale Angebote wären endlich abgebildet. Auch die kosteneffiziente Zusammenarbeit verschiedener Gesundheitsberufe würde durch neue interprofessionelle Leistungen endlich gestärkt. Der TARDOC erfüllt heute die vom Bundesrat bei seiner «Noch-Nicht-Genehmigung» im Juni 2022 formulierten Bedingungen – eine ideale Ausgangslage für die neue Bundesrätin, um mit einer Genehmigung endlich den uralten Tarmed abzulösen.

Wer nur Reformen gutheisst, die alle Probleme perfekt und für immer lösen, wird niemals Verbesserungen erreichen.

Und die Pauschalen?

Kniffliger wird für ihr Department jedoch die Frage sein, wie die eingereichten ambulanten Pauschalen zu beurteilen sind. Dass ein ambulanter Arzttarif zukünftig auch Pauschalen enthalten wird, steht ausser Frage. H+ und santésuisse haben mit den ambulanten Pauschalen einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternommen. Die neue Bundesrätin wird jedoch beurteilen müssen, ob die konkret vorliegenden Pauschalen die hohen Anforderungen des Bundes für eine Genehmigung erfüllen. Diese Prüfung ist wichtig, weil auch Pauschalen starke Fehlanreize und Kostensteigerungen verursachen können, wenn sie nicht sachgerecht sind: Pauschalen sind nicht per se gut – nur gute Pauschalen sind gut.

In mehreren Schritten zum Erfolg

Die Entscheidung für EFAS zeigt, dass grosse Projekte mitunter in mehrere Schritte unterteilt werden müssen, um jede Verbesserung so schnell wie möglich zu erreichen. Andernfalls würden bereits umsetzbare Massnahmen aufgehalten, nur weil andere noch nicht bereit sind – oder Neuerungen würden eingeführt, obwohl sie noch nicht praxistauglich sind. Die Möglichkeit eines schrittweisen Vorgehens hat sich der Bundesrat auch beim ambulanten Tarif offengelassen, indem er die Einführung von TARDOC und Pauschalen explizit nicht aneinandergekoppelt hat. So liessen sich die Pauschalen finalisieren während mit dem TARDOC bereits gearbeitet werden könnte. Die FMH wird die Entscheidung des Bundesrats aber in jedem Fall mittragen und würde in der gemeinsamen Tariforganisation OAAT die Einführung der Pauschalen genauso wie ihre Weiterentwicklung unterstützen.

… auch bei der Digitalisierung

Mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens hat die neue Bundesrätin eine Mammutaufgabe übernommen, die sich nur in sehr vielen Schritten bewältigen lassen wird. Zum Beispiel muss ihr Departement selbst anbieten, was es vom Gesundheitswesen so vehement einfordert. Bis heute müssen fast alle meldepflichtigen Erkrankungen dem BAG per Post oder Fax mitgeteilt werden – das versprochene digitale Meldesystem ist seit 2014 im Verzug. Dies zeigt symbolisch das grösste Problem: Zwar arbeiten alle – im BAG wie im Gesundheitswesen – digitalisiert, wir scheitern aber an der digitalen Kommunikation. Es fehlen die standardisierten Schnittstellen und Austauschformate, die notwendig wären, damit sich die jeweiligen Systeme Informationen übermitteln können. Auch das EPD wurde nie als Arbeits- und Kommunikationsinstrument konzipiert. Würde es im aktuellen Zustand dem Gesundheitswesen aufgezwungen, müsste es wegen seiner Unzulänglichkeiten zusätzlich zu den spital- oder praxiseigenen digitalen Patientendossiers bearbeitet werden. Diese Ineffizienz würde aktuelle Versorgungsprobleme vergrössern – gerade in der Grundversorgung. Würde das EPD zum Beispiel fünf zusätzliche Minuten pro Patient erfordern, könnte ein Arzt, eine Ärztin mit einer durchschnittlichen Termindauer von 20 Minuten zukünftig 20% weniger Patienten sehen. Bislang fehlen schlicht die Grundlagen, damit das EPD mehr nützt als schadet. Mit dem Programm DigiSanté möchte der Bund den digitalen Rückstand nun aufholen, was die FMH sehr unterstützt.

Mitunter muss man Schritt für Schritt vorgehen, um jede Verbesserung möglichst schnell zu erreichen

Viele Lösungen – eine Scheinlösung

Das Aufgleisen der neuen Finanzierung, die Gestaltung der Tarifierung und die Fortschritte in der Digitalisierung sind nur wenige der vielen Bereiche, in denen aktuell im Gesundheitswesen viel Arbeit für wirkliche Lösungen geleistet wird. Aber weil es einfacher ist, Lösungen zu fordern als an ihnen zu arbeiten, wird die Mitte-Partei im Juni 2024 ihre «Kostenbremse-Initiative» zur Abstimmung bringen. Die Initiative legt eine «starre Ausgabengrenze» [1] fest, ohne zu verraten, wie diese eingehalten werden soll. Sie bringt also keinerlei Lösung – riskiert aber laut Bundesrat eine Rationierung im Gesundheitswesen [1]. Diese Gefahr abzuwehren, wird in diesem Jahr leider viele Kräfte binden, die wir lieber in echte Lösungen investiert hätten.
2024 beginnt also mit vielen Herausforderungen, aber auch vielen Chancen. Wo ein neues Parlament mit einer wegweisenden Reform startet und eine neue Bundesrätin bei Tarifierung und Digitalisierung frisch ans Werk geht, kann ein neuer Wind echte Lösungen voranbringen – wo nötig Schritt für Schritt.
1 Bundesrat lehnt Kostenbremse-Initiative ab und verabschiedet Gegenvorschlag. Bern, 10.11.2021. URL : https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-85812.html

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