Wie das Prämienwachstum nachhaltig ausgebremst werden kann

FMH
Ausgabe
2021/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20174
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(38):1219

Affiliations
Dr. med., Präsidentin der FMH

Publiziert am 22.09.2021

Die Nachrichten im Vorfeld der diesjährigen Prämienrunde stimmen optimistisch. Nach den niedrigen Prämienaufschlägen der letzten Jahre von 1,2%, 0,2% und 0,5% [1] dürfen wir wohl erneut einen sehr moderaten Zuwachs von etwa 0,8% erwarten [2]. Trotzdem wird auch in diesem Jahr die positive Entwicklung von Unkenrufen begleitet. Unter anderem wird davor gewarnt, dass die Prämien «künstlich niedrig» seien, weil Reserven aufgelöst würden.
So irreführend diese Aussage ist, so wichtig ist ihr wahrer Kern: Tatsächlich ist die Prämienentwicklung kein direkter Spiegel der Kostenentwicklung – und das war sie auch noch nie! Dies liegt einerseits daran, dass die vom BAG genehmigten Prämien auf Kostenprognosen für das jeweils nachfolgende Jahr beruhen. Diese sind wegen gesetzlicher Anforderungen eher zu hoch angesetzt und dienen auch dem – Zitat BAG – «notwendigen Reserveaufbau» [3]. So bezahlten die Versicherten in 23 von 24 Jahren seit Einführung der Grundversicherung höhere Prämien, als sie an Nettoleistungen bezogen – mit besonders grossen Differenzen in den Jahren 2017 bis 2019 [4]. Wenn es also Reserven abzubauen gibt, liegt dies auch daran, dass die Versicherten zuvor mehr bezahlt haben, als sie an Leistungen beanspruchten – die Prämien vorher also «künstlich hoch» waren.
Noch viel bedeutsamer als die über Jahre zu hoch angesetzten Prämien ist aber der Umstand, dass aktuell 38% unseres Gesundheitswesens über Prämien finanziert werden – statt lediglich 30% wie bei Einführung des KVG im Jahr 1996 [5]. Entsprechend sind die prämienfinanzierten Kosten seither viel stärker gestiegen – nämlich um 175% – als die Gesamtkosten mit 117% [5]. Es wächst also nicht einfach nur der Rechnungsbetrag – vor allem muss der Prämienzahler einen immer grösseren Teil dieser Rechnung begleichen. Wäre der prämienfinanzierte Anteil des Gesundheitswesens konstant geblieben, wären die Prämien heute um 20% niedriger [5].
Diese Entwicklung hin zu einer zunehmenden Belastung der Prämienzahlenden wird sich wohl noch weiter fortsetzen, sofern die Politik nicht handelt. Denn dass wir immer mehr Behandlungen ambulant durchführen statt stationär, macht die Versorgung zwar insgesamt kostengünstiger – aber für den Prämienzahler teurer, weil ambulante Behandlungen ausschliesslich über Prämien bezahlt werden – und nicht wie stationäre Behandlungen überwiegend aus Steuergeldern. Diese Verlagerung trifft vor allem einkommensschwache Haushalte, weil die Kopfprämien unabhängig von der ökonomischen Leistungsfähigkeit bezahlt werden müssen.
Ein Lösungsvorschlag, wie man diese unsoziale Lastenverschiebung aufhalten könnte – und gleichzeitig grosse Effizienzpotenziale realisieren könnte –, liegt im Parlament seit über zehn Jahren vor [6], bislang leider ohne Ergebnis. Mit der einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (EFAS) würden die Finanzierungsanteile von Prämien- und Kantonsgeldern festgeschrieben – unabhängig davon, ob eine Behandlung ambulant oder stationär erfolgt. Dadurch könnte auch das Potenzial ambulanter Behandlungen besser ausgeschöpft und vor allem könnten Modelle der integrierten Versorgung gefördert werden mit gros­sen Kostenvorteilen für die Versicherten. Unter dem Strich würden die Prämienzahlenden durch eine sozialere Lastenverteilung sowie Einsparungen von mehreren Milliarden jährlich deutlich entlastet – während die Versorgungsqualität sogar verbessert würde.
Ob es noch mehr Grund zum Optimismus gibt als einfach die niedrigen Prämienaufschläge der letzten Jahre, entscheidet sich im Parlament. Mit EFAS könnte die Prämienlast nachhaltig reduziert werden – und dies im Gegensatz zu anderen politischen Vorhaben ohne Versorgungseinbussen. Eine breite Allianz von Akteuren des Gesundheitswesens sowie das Konsumentenforum treten schon lange für EFAS ein [6] – die Politik muss nur noch handeln.
2 NZZ am Sonntag, 28.8.2021, Prämien steigen um 0,8 Prozent, Autor: Andreas Schmid: nzzas.nzz.ch/schweiz/krankenkassen-werden-teurer-die-praemien-steigen-um-08-prozent-ld.1642704
3 Siehe Medienmitteilung des BAG zur Prämienentwicklung vom 28.09.2017: www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/aktuell/medienmitteilungen.msg-id-68250.html
4 Mittlere Prämien in Franken je versicherte Person pro Jahr, nach Kantonen und Nettoleistungen pro Versicherten pro Jahr in Franken, nach Kantonen. Gemäss Statistik der obligatorischen Krankenversicherung, BAG: www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/statistiken-zur-krankenversicherung/statistik-der-obligatorischen-krankenversicherung/Portal-statistik-der-obligatorischen-krankenversicherung.exturl.html; Berner Zeitung, 18.5.2021. Die Bernerinnen und Berner haben viel zu hohe Prämien bezahlt, Autor: Marius Aschwanden: www.bernerzeitung.ch/die-bernerinnen-und-berner-haben-viel-zu-hohe-praemien-bezahlt-532222073225
5 BFS – Kosten und Finanzierung des Gesundheitswesens, Finanzierung des Gesundheitswesens nach Finanzierungsregimes, T14.5.2.1, Stand der Daten: 31.3.2021: www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/kosten-finanzierung/finanzierung.assetdetail.16944801.html
6 Siehe auch www.pro-efas.ch/de/

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