Aktuelles aus den Regionalen Pharmacovigilance-Zentren und Tox Info Suisse

Mitteilungen / Communications

Mitteilungen
Ausgabe
2002/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2002.09292
Schweiz Ärzteztg. 2002;83(40):02090

Affiliations
a Regionales Pharmacovigilance-Zentrum Zürich, Klinik für klinische Pharmakologie und Toxikologie, Universitätsspital Zürich, Zürich; b Swissmedic, Bern; c Klinik für Neurologie, Universitätsspital Zürich und Universität Zürich, Zürich

Publiziert am 02.10.2002

Einleitung

Leukopenien sind ätiologisch bedingt durch eine zu geringe Produktion oder einen gesteigerten Zerfall der Leukozyten. Chemotherapie, Infektionen oder Immunreaktionen, aber auch genetische Prädispositionen können Leukopenien verursachen. Eine genaue Diagnostik ist daher von äusserster Wichtigkeit, insbesondere, weil eine medikamenteninduzierte Leukopenie eine Ausschlussdiagnose darstellt [1]. Entscheidend für die korrekte Kausalitätsbeurteilung zwischen dem unerwünschten Ereignis und dem Arzneimittel sind nach den WHO-UMC-(«World Health Organisation / Uppsala Monitoring Centre»-)Kriterien der zeitliche Zusammenhang und die Besserung der Symptome nach Absetzen des Arzneimittels (positive Dechallenge). Treten die gleichen Beschwerden nach erneuter Einnahme wieder auf, so spricht man von einer positiven Rechallenge, welche die Kausalität bestärkt. Bei der Plausibilitätsüberprüfung werden auch alternative pathophysiologische Genesen abgeklärt und in die Beurteilung einbezogen [2].
Medikament: Amitriptylin, Substanzklasse trizyklische Antidepressiva: nichtselektive Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren (NSMRI)
Folgen der UAW: Wechsel auf einen anderen Wirkstoff derselben Substanzklasse mit reduzierter Dosis
Verlauf: Ohne Schaden erholt
Kausalitätsbewertung: Wahrscheinlich

Der klinische Fall

Seit Oktober 2018 litt die 64-jährige Patientin an einer vestibulären Migräne mit starkem Schwankschwindel. Eine Therapie mit Magnesium und Riboflavin zeigte eine leichte Besserung, Flunarizin hatte keinen Effekt auf die Beschwerden. Zudem bestand eine peripher-vestibuläre Unterfunktion rechts. Als Vorerkrankung lag eine zerebrale Vaskulopathie unklarer Genese vor. Im weiteren Verlauf wurde eine Erkrankung aus dem Formenkreis der CADASIL («cerebral autosomal dominant arteriopathy with subcortical infarcts and leukoencephalopathy) diagnostiziert.
Die Patientin erhielt aufgrund persistierender starker Migräne ab Mai 2020 eine Behandlung mit Amitriptylin (Saroten®) 25 mg pro Tag. Geplant war, die Anfangsdosis bei guter Verträglichkeit und Wirksamkeit alle 3–7 Tage um 10–25 mg bis zu einer Maximaldosis von 75 mg pro Tag zu steigern.
Eine Woche nach Beginn der Therapie mit 25 mg Amitriptylin erfolgte die Dosiserhöhung auf 50 mg pro Tag, worunter die Patientin eine deutliche Verbesserung der Kopfschmerzen und des Schwindels feststellte. Anfang August 2020 wurde eine Leukopenie von 3 G/l (Referenzwerte 3,8–10,7 G/l) ermittelt und die Dosis von Amitriptylin zunächst auf 25 mg pro Tag reduziert und schliesslich am 7.8.2020 abgesetzt (Abb. 1). Ebenfalls leicht betroffen waren die Lymphozyten und Granulozyten. Nach dem Stopp von Amitriptylin normalisierte sich das Blutbild wieder (Dezember 2020). Da alternative Therapieversuche mit Venlafaxin und Metoprolol keinen Therapierfolg erbrachten, wurde Ende Februar 2021 nochmals ein Versuch mit Amitriptylin in einer reduzierten Dosierung von 10 mg pro Tag unter engmaschiger Blutbildkontrolle gestartet. Zuvor wurde am 4.2.2021 eine vollständige Erholung der Leukozyten (Lc) mit 3,97 G/l (Referenzwerte 3,0–9,6 G/l) und der Lymphozyten mit 1,82 G/l (Referenzwerte 1,5–4,0 G/l) bestätigt (in Abb. 1 nicht dargestellt). Unter der Gabe von Amitriptylin traten erneut Leukopenien auf mit einem Lc-Nadir von 2,8 G/l am 16.4.2021, weshalb Amitriptylin wieder gestoppt wurde. Auch unter einem weiteren Therapieversuch am 28.6.2021 mit Trimipramin 12,5 mg pro Tag aus der gleichen Substanzklasse der trizyklischen Antidepressiva entwickelte die Patientin kurzfristig eine Leukopenie mit einem Lc-Nadir von 3,3 G/l am 5.7.2021. Die Lc erholten sich unter fortgeführter Gabe von Trimipramin im weiteren Verlauf. Der Verlauf der Lc-Werte ist in Abbildung 1 dargestellt.
Abbildung 1: Verlauf der Leukozyten von Mai 2020 bis Juli 2021.

Klinische Beurteilung

Amitriptylin (Saroten®) ist ein trizyklisches Antidepressivum und Analgetikum, das unter anderem zur prophylaktischen Behandlung bei chronischen Spannungskopfschmerzen und Migräne eingesetzt werden kann. Es wird den nichtselektiven Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren (NSMRI) zugeordnet, da die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin durch die Blockade der Monoamintransporter gehemmt wird. Da Amitriptylin ein tertiäres Amin ist, wird eine ungefähr gleich starke Hemmung der Aufnahme von Serotonin und Noradrenalin erwartet. Sekundäre Amine, wie zum Beispiel der aktive Metabolit Nortriptylin, hemmen bevorzugt die Noradrenalin-Wiederaufnahme [3]. Durch die Monoamintransporter-Blockade werden die noradrenerge und serotoninerge synaptische Übertragung verstärkt. Trizyklische Antidepressiva sind jedoch nicht selektiv und können diverse weitere Rezeptoren, wie zum Beispiel den Muskarinrezeptor und den α1-Adrenozeptor beeinflussen [3].
Die Eliminationshalbwertszeit von Amitriptylin nach oraler Anwendung beträgt rund 25 Stunden. Sie ist wegen der hohen Lipophilie der Substanz relativ lang. Die Ausscheidung erfolgt überwiegend renal [4].
Eine arzneimittelbedingte Leukopenie kann grundsätzlich durch zwei verschiedene Mechanismen entstehen:
Allergische Leukopenien laufen meistens über eine zytotoxische (Typ II) oder Immunkomplexreaktion (Typ III) ab, die zu einer Zerstörung der überwiegend reifen Zellen führt.
Toxische Leukopenien entstehen durch eine Schädigung des Knochenmarks durch Arzneimittelmetaboliten, die dann zu einer Verminderung der Vorläuferzellen führen.
Ein Abfall der Zellen bei toxischen Leukopenien manifestiert sich meist schleichend und eine vorherige Sensibilisierung ist nicht notwendig. Eine toxische Zytopenie ist zudem überwiegend dosisabhängig, wohingegen allergische Zytopenien idiosynkratisch und dosisunabhängig auftreten können. Der allergisch bedingten Zytopenie geht eine Sensibilisierung voraus, wodurch sich auch der rasche Abfall der Zellzahl nach jeder Reexposition mit dem Allergen erklärt [1, 3].
Gemäss dem systematischen Review von Anderson et al. konnten bei über 50% der sicher respektive wahrscheinlich eingestuften arzneimittelinduzierten Agranulozytosen folgende zehn Arzneimittel (ausgenommen Chemotherapeutika) als Ursache identifiziert werden: Carbimazol, Clozapin, Dapson, Metamizol, Thiamazol, Penicillin G, Procainamid, Propylthiouracil, Rituximab, Sulfasalazin und Ticlopidin [5].
Die Schweizer Arzneimittelinformation beschreibt Leukopenien als seltene (0,01–0,1%) unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) von Amitriptylin [4]. In der WHO-Datenbank VigiLyze sind seit 1968 von insgesamt 35 249 individuellen Case Safety Reports, 131 Fälle zu «Preferred Term (PT): Leukopenia» aufgeführt [6].
Ein Case Report von 2014 beschreibt ebenfalls eine Agranulozytose bei einer 62-jährigen Patientin nach einer vierwöchigen erstmaligen Einnahme von Amitriptylin. Eine Knochenmarkbiopsie zeigte hier eine völlige Abwesenheit von neutrophilen Granulozyten im Blut. Dies spricht eher für eine toxische Zytopenie, da im Knochenmark keinerlei Vorläuferzellen vorhanden waren [7].
Die langsame Entwicklung der Leukopenie im vorliegenden klinischen Fall deutet ebenfalls eher auf eine toxische Zytopenie hin.

Kausalitätsbeurteilung

Zwischen der Anwendung von Amitriptylin und dem Auftreten der Symptomatik im eingangs beschriebenen Fall besteht ein zeitlicher Zusammenhang. Das Abklingen der Symptome nach Absetzen stellt eine positive Dechallenge dar. Das Wiederauftreten der Symptome nach erneutem Start der Medikation kann als positive Rechallenge bewertet werden. Aufgrund des direkten zeitlichen Zusammenhangs und der Abwesenheit anderer plausibler Erklärungen wurde auf weitere Diagnostik verzichtet.
Zusammenfassend wurde aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs, der Dokumentation in der Arzneimittelinformation sowie in der WHO-Datenbank, der positiven De- und Rechallenge sowie fehlender Hinweise auf nichtmedikamentöse Ursachen die Kausalität zwischen der Anwendung von Amitriptylin (Saroten®) und dem Auftreten der Leukopenie gemäss WHO/«Council for International Organizations of Medical Sciences»-(CIOMS-)Kriterien formal als wahrscheinlich bewertet.

Meldungen vermuteter unerwünschter Wirkungen

Medizinische Fachpersonen und alle, die Heilmittel herstellen, gewerbsmässig verabreichen oder abgeben oder als Medizinalpersonen dazu berechtigt sind, sind verpflichtet, das Auftreten einer unerwünschten Wirkung zu melden (Art. 59, Abs. 3 Heilmittelgesetz [HMG]). Für Meldungen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) sollten medizinische Fachpersonen das dafür entwickelte Meldeportal verwenden. Mit dem sogenannten Electronic Vigilance System (EIViS) können UAW direkt erfasst werden.
Bevor Sie ElViS nutzen, ist eine Registrierung erforderlich. Wichtig ist dabei, dass Sie sich einmalig für das Login mit HIN-Identität oder das CH-LOGIN entscheiden.
Alle erforderlichen Informationen sind zu finden unter www.swissmedic.ch → Marktüberwachung → Pharmacovigilance → Ärzte und Apotheker.

Schlussfolgerungen

Leukopenien sind seltene, jedoch nicht zu unterschätzende unerwünschte Arzneimittelwirkungen von Amitriptylin.
Medikamenteninduzierte Zytopenien können immunvermittelt oder dosisabhängig toxisch auftreten.
Das Melden von unerwünschte Arzneimittelwirkungen ist ein wichtiger Beitrag zur Arzneimittelsicherheit.
Julia Stermann, Apothekerin
Regionales Pharmacovigilance-Zentrum Zürich, Zürich
SW erhielt Forschungsgelder des Schweizer Nationalfonds, des Klinischen Forschungsschwerpunktes (KFSP) Stroke der Universität Zürich (UZH), der Schweizerischen Herzstiftung, des Zentrums für Neurowissenschaften Zürich (ZNZ) sowie Beratungs-/Vortragshonorare von Bayer, Novartis, Springer, Teva Pharma; sie ist zudem Mitglied folgender Organisationen: European Stroke Organization, Swiss Stroke Society, Swiss Headache Society, Zurich Neurologist Association, Society for Swiss Neurosciences. KW erhielt Forschungsgelder von Alexion Pharmaceuticals und berichtet das Patent WO 2022/018271 A1. JS, BD, EF, KN, IO haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. rer. nat. Imke Ortland
Klinik für klinische Pharmakologie und Toxikologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
1 Coates DS. Drug-induced neutropenia and agranulocytosis. UpToDate [Internet]. 2021 Jan [cited 2021 Oct 28]. Available from: https://www.uptodate.com/
2 Uppsala Monitoring Centre [Internet]. The use of the WHO-UMC system for standardised case causality assessment. 2018 Apr [cited 2021 Oct 28]. Available from: https://www.who-umc.org/
3 Henschler D, Rummel W, Aktories K, Forth W. Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie: für Studenten der Medizin, Veterinärmedizin, Pharmazie, Chemie und Biologie sowie für Ärzte, Tierärzte und Apotheker. 11., überarb. Aufl. ed. München: Elsevier, Urban & Fischer; 2013.
4 Arzneimittelinformation [Internet]. Saroten®. 2021 Apr [cited 2021 Oct 28]. Available from: www.swissmedicinfo.ch.
5 Andersohn F, Konzen C, Garbe E. Systematic review: agranulocytosis induced by nonchemotherapy drugs. Annals of internal medicine. 2007;146(9):657–65.
6 Uppsala Monitoring Centre [Internet]. VigiLyze. 2021 Sept [cited 2021 Oct 28]. Available from: https://vigilyze.who-umc.org/.
7 Azadeh N, Kelemen K, Fonseca R. Amitriptyline-Induced Agranulocytosis With Bone Marrow Confirmation. Clin Lymphoma Myeloma Leuk. 2014;14(5):e183-e5.

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