Ein Aufruf zur Vorsicht

Beurteilung und Behandlung von Geschlechtsdysphorie in der Pädiatrie

Reflexionen
Ausgabe
2024/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2024.1571656978
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2024;24:1571656978

Affiliations
a Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, ehemaliger Privatdozent an der Medizinischen Fakultät Genf
b Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, ehemaliger Präsident der FMH
c Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, ehemalige Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie

Publiziert am 22.08.2024

Die Frage der Geschlechtsidentität und der damit verbundenen Störungen – Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie (GI/GD) – ist zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema und gleichzeitig zu einem Terrain der Reflexion und der Kontroverse geworden, das die medizinische Praxis und Ethik direkt berührt. Die WHO hat angekündigt, dass sie in naher Zukunft Leitlinien veröffentlichen wird, die sich insbesondere mit Therapien zur Geschlechtsangleichung befassen werden [1].
Die Zahl der Fälle von GI/GD ist in den letzten zehn Jahren sprunghaft gestiegen1. Immer mehr Minderjährige wünschen eine Geschlechtsumwandlung, darunter auch Mädchen, die früher nur selten von dieser Problematik betroffen waren, heute aber die grosse Mehrheit bilden.
Diese rasanten Entwicklungen sind Gegenstand von Debatten, die eher ideologisch und politisch als wissenschaftlich geprägt sind. Es gilt allerdings festzuhalten, dass derzeit viele medizinische Fachgesellschaften, etwa die «American Academy of Pediatrics», Jugendlichen und sogar Vorpubertären medizinische und/oder chirurgische Behandlungen vorschlagen, die sie ihr ganzes Leben lang fortsetzen sollen und irreversible und potenziell gefährliche Auswirkungen haben können. Und dies um eine Störung zu behandeln, die in vielen Fällen nur ein vorübergehendes Phänomen im Zusammenhang mit der Identitätsfindung in der Adoleszenz oder ein Problem im Rahmen einer psychopathologischen Komorbidität (Depression, Autismus, Aufmerksamkeitsdefizitstörung usw.) sein kann [2].
Zu diesen Behandlungen gehört die Anwendung von Pubertätsblockern, auf die fast immer eine lebenslange Hormontherapie zur Geschlechtsanpassung folgt (Testosteron bei Mädchen, die Knaben werden wollen, und Östrogen-Gestagene bei Knaben, die Mädchen werden wollen). Hinzu kommen optionale chirurgische Massnahmen wie die Mastektomie (die laut dem Bundesamt für Statistik bei Frauen und Mädchen unter 24 Jahren in der Schweiz von einem Fall im Jahr 2016 auf 114 Fälle im Jahr 2021 angestiegen ist und die zwischen 2018 und 2021 bei 10 Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren durchgeführt wurde), Hysterektomie, Ovarektomie, Vaginoplastik, Phalloplastik und andere, die nicht nur irreversibel sind, sondern auch mit schweren Komplikationen einhergehen können [3].
Ungeachtet der in Fachkreisen weitverbreiteten Überzeugung über die Sicherheit und Wirksamkeit transaffirmativer Behandlungen in der Pädiatrie2 kann das zunehmende Auftreten von Fällen von «Detransition», in denen Jugendliche ihr Bedauern (und bisweilen auch ihren Zorn) darüber ausdrücken, dass sie sich zu diesen Therapien bringen haben lassen, nicht länger ignoriert werden [4], und man muss mit klarem Verstand zugeben, dass die Daten aus der medizinischen Fachliteratur, die den Nutzen dieser Interventionen unterstützen, auf einem sehr geringen Evidenzgrad beruhen.
Insbesondere haben die Ergebnisse von Längsschnittstudien mit erwachsenen Transgender-Populationen keinen Nutzen von Transitionsbehandlungen im Hinblick auf die psychische Gesundheit gezeigt; einige Studien legen sogar nahe, dass mit den Behandlungen schädliche Auswirkungen verbunden sind [4, 5].
Die bisher umfassendste Analyse der vorhandenen Daten, die vom britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) in Auftrag gegeben wurde, kam zu dem Schluss, dass die veröffentlichten Daten zu Pubertätsblockern und Hormontherapien zur Geschlechtsanpassung sehr unzuverlässig sind [6, 7].
Andere Analysen der Gesundheitsbehörden in Schweden und Finnland kamen zu dem Schluss, dass das Risiko-Nutzen-Verhältnis von Transitionsbehandlungen bei Jugendlichen bestenfalls unbekannt, schlimmstenfalls ungünstig ist [5, 8, 9]. Die «American Academy of Pediatrics» hat, ohne ihre Unterstützung für Transitionstherapien aufzugeben, angekündigt, dass sie eine Neubewertung ihrer potenziellen Vorteile anstrebe [10] und die «European Academy of Pediatrics» hat einen Aufruf zur Vorsicht bei der Behandlung Jugendlicher mit GI/GD veröffentlicht [11]. Erst kürzlich hat der vom NHS in Auftrag gegebene unabhängige Bericht von Dr. Hilary Cass die mässige Qualität der veröffentlichten Studien zu diesem Thema hervorgehoben, den Mangel an Nachweisen für die Wirksamkeit und Sicherheit transaffirmativer Hormonbehandlungen betont und empfohlen, dass diese nur im Rahmen sorgfältig kontrollierter klinischer Studien erfolgen sollten [12].
Folglich sollte heute ein Ansatz Vorrang haben, der das Wohl des Kindes für sein Leben in der Gegenwart und in der Zukunft in den Mittelpunkt stellt, ein vorsichtiger und geduldiger Ansatz, der sich mit den in dieser Population so häufigen psychiatrischen Komorbiditäten befasst und darauf abzielt, die Ursache der GI/GD durch aufmerksames, empathisches und offenes Zuhören während eines Zeitraums der Reifung zu verstehen. Hormonelle und chirurgische Behandlungen zur Geschlechtsaffirmation sollten nur nach einer wissenschaftlich validierten Gesamtbewertung oder im Rahmen ethisch abgesicherter klinischer Studien in Betracht gezogen werden, nicht um Personen, die eine Behandlung benötigen, diese vorzuenthalten, sondern im Gegenteil, um ihre Entwicklung zu schützen und ihre Rechte zu respektieren.
1 Um nur eine Zahl zu nennen: An der Tavistock-Klinik in London, die sich auf Genderfragen spezialisiert hat, ist die Zahl der Konsultationen pro Jahr zwischen 2009 und 2020 von 51 auf 2728 (ein Anstieg um das 53-Fache!) gestiegen (vgl. Tavistock and Portman NHS Foundation Trust, 2020).
2 Wie eine aktuelle Umfrage des Journal International de Médecine jedoch zeigt, sind die Gesundheitsfachpersonen in Frankreich mehrheitlich für ein Verbot von Hormonbehandlungen für minderjährige Transgender.

Das Wichtigste für die Praxis

Wenn sich ein jugendlicher Mensch mit Fragen zu seiner Geschlechtsidentität an die Kinder- oder Hausärztin bzw. den Kinder- oder Hausarzt wendet, ist es wichtig, dass sie bzw. er sich Zeit nimmt, um:
  • zu versuchen zu verstehen , woher der Wunsch kommt und wie lange er zurückliegt: Eine Geschlechtsinkongruenz, die in der frühen Kindheit aufgetreten ist, hat mehr diagnostisches Gewicht als ein plötzlicher Wunsch, der im Jugendalter auftritt;
  • die Situation umfassend zu beurteilen: persönliche Vorgeschichte, familiärer, schulischer und sozialer Hintergrund;
  • die Eltern anzuhören;
  • Einflussfaktoren in Betracht zu ziehen, die zur Entstehung des Wunschs beigetragen haben können (Soziale Netzwerke);
  • nach psychologischen oder psychiatrischen Problemen (Komorbidität) zu suchen, einschliesslich der Bewertung der Möglichkeit einer begleitenden oder bereits bestehenden Störung der Neuroentwicklung oder des Autismus-Spektrums oder eines depressiv-ängstlichen Zustands.
Dieser Ansatz kann einer multidisziplinären Fachberatung vorausgehen oder mit dieser abgestimmt werden.
Generell sollten der Einsatz von Pubertätsblockern und/oder einer geschlechtsangleichenden Hormontherapie und besonders chirurgischen Eingriffen nur in Ausnahmefällen und im Rahmen klinischer Studien erfolgen, die in wissenschaftlicher und ethischer Hinsicht sorgfältig validiert wurden.
daniel.halperin[at]bluewin.ch
1 WHO [Internet]. WHO announces the development of a guideline on the health of trans and gender diverse people [cited 2023 Dec]. Available from: https://www.who.int/news/item/18-12-2023-who-announces-the-development-of-a-guideline-on-the-health-of-trans-and-gender-diverse-people
2 Singh D, Bradley SJ, Zucker KJ. A follow-up study of boys with gender identity disorder. Front. Psychiatry 2021;12:632784.
3 Ferrando CA. Adverse events associated with gender affirming vaginoplasty surgery. Am J Obstet Gynecol. 2020;223(2):267.e1-267.e6
4 Levine SB, Abbruzzese E. Current concerns about gender-affirming therapy in adolescents. Curr Sex Health Rep 2023;15:113–23.
5 Ludvigsson JF, Adolfsson J, Höistad M, Rydelius PA, Kriström B, Landén M. A systematic review of hormone treatment for children with gender dysphoria and recommendations for research. Acta Paediatr 2023;00:1–14.
6 National Institute for Health and Care Excellence (NICE). Evidence review: gender-affirming hormones for children and adolescents with gender dysphoria. 2020. https://cass.independent-review.uk/nice-evidence-reviews/
7 National Institute for Health and Care Excellence (NICE). Evidence review: gonadotrophin releasing hormone analogues for children and adolescents with gender dysphoria. 2020. https://cass.independent-review.uk/nice-evidence-reviews/
8 Swedish Agency for Health Technology Assessment and Assessment of Social Services (SBU). Gender dysphoria in children and adolescents: an inventory of the literature. A systematic scoping review. February 2022. (Summary available on: https://segm.org/segm-summary-sweden-prioritizes-therapy-curbs-hormones-for-gender-dysphoric-youth)
9 Recommendation of the Council for Choices in Health Care in Finland (PALKO / COHERE Finland). Medical Treatment Methods for Dysphoria Related to Gender Variance in Minors. 2020. (Certified English translation on: https://archive.iftcc.org/council-for-choices-in-health-care-in-finland-palko-cohere-finland-2020-recommendation-of-the-council-for-choices-in-health-care-in-finland-palko-cohere-finland-medical-treatment-methods-for-d/)
10 Mondegreen E. Medical groups are memory-holing their trans guidance. The American Academy of Pediatrics wants to review youth gender treatments. The Post, August 4, 2023. En ligne sur: https://unherd.com/thepost/medical-groups-are-memory-holing-their-trans-guidance/
11 Brierley J, Larcher V. Hadjipanayis A, Grossman Z. European Academy of Pediatrics statement on the clinical management of children and adolescents with gender dysphoria. Frontiers in Pediatrics, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fped.2024.1298884/full
12 Cass H., Independent review of gender identity services for children and young people, April 2024. En ligne sur: https://adc.bmj.com/pages/gender-identity-service-series

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