Psychologische Betreuung von Vertriebenen in der Ukraine
Mit Traumata leben

Psychologische Betreuung von Vertriebenen in der Ukraine

Arbeitsalltag
Ausgabe
2024/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2024.1557338489
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2024;24(08):236-238

Affiliations
Redaktorin, Ärzte ohne Grenzen

Publiziert am 14.08.2024

«Ich ziehe oft Parallelen zwischen physischen und psychischen Verletzungen», sagt Mariana Rachok, Gesundheitsberaterin bei Ärzte ohne Grenzen. «Wenn man eine Wunde nicht desinfiziert oder behandelt, sondern sie einfach abdeckt und versucht, sie zu ignorieren, verheilt die Wunde nicht, der Zustand der Patientin oder des Patienten verschlechtert sich gar. Zwar kann man mit psychologischer Unterstützung keine geliebten Menschen herbeizaubern oder ein zerstörtes Zuhause wieder herstellen. Man kann Betroffenen aber dabei helfen, dass sie Wege finden, um mit ihrem Trauma zu leben.»
Auch Alina Rosheva hatte einige psychische Verletzungen zu bewältigen. Nach Ausbruch des Krieges musste die 20-Jährige mit ihren Verwandten aus Mariupol fliehen. «Wir hatten ein schönes Haus in Mariupol. Ich hatte viele Freunde und blickte voller Zuversicht in die Zukunft. Im Februar 2022 fand alles ein abruptes Ende. Mit Verwandten verschanzten wir uns in unserem Keller. Die Explosionen waren so heftig, dass die Kellertür aufgesprengt wurde. Um unser Leben zu retten, mussten wir fliehen.»
«Die Heilung passiert nicht über Nacht», Alina Rosheva hat vor kurzem das PTBS-Programm abgeschlossen.
© Fanny Hostettler/MSF
Nach 20 Tagen im Keller machte sich Alina mit ihren Verwandten auf eine lange und gefährliche Reise. Sie passierte ein Dutzend russische Kontrollposten, bevor sie in ein von der ukrainischen Armee kontrolliertes Gebiet gelangte. Auf dem Weg Richtung Westen erreichte sie die Stadt Vinnytsia, die ihr vorübergehendes Zuhause geworden ist.

Albträume und wiederkehrende Flashbacks

Wie Alina sind derzeit mehr als 4,6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer Vertriebene im eigenen Land, 160 000 von ihnen leben in Vinnytsia. Ab April 2022 leistete Ärzte ohne Grenzen medizinische und psychologische Erste Hilfe in den Unterkünften, in denen die Vertriebenen in und um die Stadt untergebracht waren. Um auf die Angebote für psychologische Unterstützung aufmerksam zu machen, führen die Teams von Ärzte ohne Grenzen Gruppensitzungen durch, die sich sowohl an Erwachsene als auch an Kinder richten.
Die Spezialistinnen und Spezialisten erkannten bald, dass viele Menschen aufgrund des Krieges an posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) litten und spezialisierte psychologische Betreuung benötigen. Daher eröffnete Ärzte ohne Grenzen Im September 2023 in Vinnytsia ein Zentrum für Menschen mit kriegsbedingter PTBS.
Im Rahmen von kreativen Workshops können auch Aufklärungsgespräche durchgeführt werden.
© Fanny Hostettler/MSF
«Die meisten Patientinnen und Patienten sind Vertriebene, die Schreckliches erlebt und überlebt haben», sagt die Ärztin Lilia Savchenko. «Sie haben Albträume, wiederkehrende Flashbacks und leiden an Angstzuständen. Ohne Hoffnung kapseln sie sich ab. All dies sind normale Reaktionen auf abnormale Ereignisse. Wenn solche Reaktionen jedoch länger als drei bis sechs Monate anhalten, ist dies ein Hinweis darauf, dass eine Person an einer PTBS leidet.»
Die Psychologinnen und Psychologen von Ärzte ohne Grenzen betreuen derzeit etwa 30 Patientinnen und Patienten in wöchentlichen Konsultationen. Zunächst sprechen die Betroffenen mit einer Ärztin oder einem Arzt und einer Psychologin oder einem Psychologen. Anhand von Tests und klinischer Beobachtung stellen diese eine Diagnose und entwickeln dann ein Behandlungsprogramm für die Patientin oder den Patienten.
Gesundheitsförderungsaktion von Ärzte ohne Grenzen für Kinder, Mütter und Grossmütter in einem Zentrum der Organisation l'Mariupol.
© Fanny Hostettler/MSF
«Das Behandlungsprogramm hängt vom psychischen Zustand ab, in dem die Person zu uns kommt. Im Durchschnitt sind es 10–15 Konsultationen», sagt Dr. Savchenko. Bei den Konsultationen wenden die Psychologinnen und Psychologen evidenzbasierte Verfahren an, die auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten abgestimmt werden.

Stigmatisierung psychisch kranker Menschen

PTBS-Betroffene sträuben sich häufig dagegen, Hilfe zu suchen. Die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen verstärkt diese Ablehnung. «Es fehlt an Wissen darüber, wie eine Psychotherapie abläuft. Dies kann Menschen davon abhalten, Hilfe zu suchen», sagt Andrii Panasiuk, Psychologe und Supervisor für psychische Gesundheit bei Ärzte ohne Grenzen.
«Die kreativen Aktivitäten haben mir mental geholfen», sagt Lidia Bazualyeva, hier während einer Therapiestunde.
© Florence Dozol/MSF
Die Teams führen deshalb Gespräche mit Hausärztinnen und Hausärzten sowie Veteranenverbänden durch. Dadurch können diese für das Thema PTBS sensibilisiert werden und erhalten Informationen darüber, welche Symptome auf eine Belastungsstörung hinweisen könnten. Zusammen mit lokalen Organisationen, die sich um Vertriebene kümmern, führen die Teams von Ärzte ohne Grenzen im Rahmen von kreativen Workshops oder Kunstprojekten auch Aufklärungsgespräche über Anzeichen von PTBS durch.
Die 74-jährige Lidia Bazualyeva wurde aus ihrem Haus in Kherson vertrieben und erhielt von Ärzte ohne Grenzen psychologische Unterstützung für ihre PTBS. «Die kreativen Aktivitäten haben mir mental geholfen, ebenso wie die Gespräche mit der Psychologin. Langsam kam ich aus diesem sehr schwierigen Zustand heraus. Ich habe noch nie eine Veranstaltung verpasst, die von den Teams für Gesundheitsförderung organisiert wurde, sie sind zu meiner Familie geworden», sagt sie und lächelt. «Wenn ich erzähle und mich mit anderen austausche, fange ich wieder langsam an zu leben.»
Infoblatt zur Sensibilisierung für PTBS-Symptome.
© msf
Alina Rosheva hat vor kurzem das PTBS-Programm von Ärzte ohne Grenzen abgeschlossen. «Ich habe viele Therapiesitzungen besucht», sagt sie. «Es war nicht einfach, der Heilungsprozess dauert lange und war kompliziert – er passiert nicht über Nacht. Nach drei Monaten hörten die Panikattacken aber auf. Ich hatte gelernt, mit ihnen umzugehen und sie zu kontrollieren.» Mittlerweile organisiert Alina selbst kulturelle Aktivitäten für die Organisation I'Mariupol. Sie hat einen neuen Freundeskreis in Vinnytsia aufgebaut und blickt wieder mit Zuversicht in die Zukunft.

FIFDH x MSF

Vorführung des Films «Photophobia»
8. Oktober, 18.30 bis 20 Uhr
Ärzte ohne Grenzen, Route de Ferney 140, Genf

Im Rahmen seiner Partnerschaft mit dem Internationalen Filmfestival und Forum für Menschenrechte (FIFDH) zeigt Ärzte ohne Grenzen den Film von Ivan Ostrochovský und Pavol Pekarčik mit anschliessender Diskussion.
«Photophobia»: Ukraine, Februar 2022. Der 12-jährige Niki und seine Familie sind gezwungen, aus ihrem Zuhause zu fliehen und in einer U-Bahn-Station von Charkiw Schutz vor dem Krieg zu suchen. Dieser triste Ort wird zu seinem Spielplatz, denn die Aussenwelt und das Tageslicht bedeuten Gefahr.
www.msf.ch/a-propos/evenements/fifdh-x-msf-projection-film-photophobia

Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine

Ärzte ohne Grenzen war 1999 erstmals in der Ukraine tätig und bot Behandlungen für HIV/AIDS, Tuberkulose und Hepatitis C an. Zwischen 2014 und 2019 arbeiteten Teams von Ärzte ohne Grenzen in den konfliktbetroffenen Regionen Luhansk und Donezk. Dort betrieben sie mobile Kliniken, unterstützen lokale Gesundheitsfachkräfte und bildeten sie für die psychische Betreuung aus. In den 2.5 Jahren seit der dramatischen Eskalation des Krieges in der Ukraine hat die medizinische Hilfsorganisation ihre Aktivitäten ausgeweitet.
Seit September 2023 bieten Teams von Ärzte ohne Grenzen in einem neuen Zentrum für psychische Gesundheit in Vinnytsia psychologischen Unterstützung für Menschen mit kriegsbedingten posttraumatischen Belastungsstörungen an. Sie haben seitdem fast 1400 Beratungen durchgeführt und 4400 Aufklärungsveranstaltungen organisiert; 81 Patientinnen und Patienten haben ihre Therapie im Rahmen dieses Programms abgeschlossen.
Yvonne Eckert
Medienverantwortliche
Médecins Sans Frontières
Operational Center of Geneva (OCG)
Kanzleistrasse 126
CH-8004 Zürich
yvonne.eckert[at]geneva.msf.org

Fanny Hostettler

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