Ein Unglück kommt selten allein
Schwere Anämie und Lymphadenopathie
Peer-review

Ein Unglück kommt selten allein

Case reports
Ausgabe
2024/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2024.1542742086
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2024;24(08):232-235

Affiliations
a Departement für Innere Medizin, Kantonsspital Baden, Baden
b Institut für Radiologie, Kantonsspital Baden, Baden
* geteilte Erstautorenschaft

Publiziert am 14.08.2024

Der Vorstellungsgrund

Eine 43-jährige Patientin, vor kurzer Zeit aus Osteuropa zugewandert, wurde durch den Hausarzt aufgrund einer schweren Anämie (34 g/L) notfallmässig in unsere Klinik zugewiesen. Aus finanziellen Gründen hatte sie über Jahre hinweg keine ärztliche Betreuung wahrgenommen. Sie berichtete über Müdigkeit, Anstrengungsdyspnoe, Nachtschweiss und einen Gewichtsverlust von 74 auf 58 kg innerhalb eines Jahres. Seit sechs Monaten bestanden zudem vaginale Blutungen jeden zweiten Tag, ein grünlicher Ausfluss aus beiden Mamillen sowie schmerzlose Lymphknotenschwellungen am Hals und in den Leisten. Die Patientin war, bis auf eine Hepatitis B in der Vorgeschichte, immer gesund gewesen und nahm keine Medikamente ein. Sie berichtete über einen fortgesetzten Nikotinkonsum von 45 Pack-Years, eine positive Anamnese für ungeschützten Geschlechtsverkehr sowie eine positive Expositionsanamnese für Tuberkulose.
In der klinischen Untersuchung war die deutlich im Allgemeinzustand reduzierte Patientin grenzwertig tachykard (100/Minute), normoton (107/51 mm Hg), nativ adäquat gesättigt und afebril. Das blasse Integument zeigte Kratzwunden am Rücken und am Kinn. Die kardiopulmonale Auskultation war unauffällig. Das Abdomen war weich und indolent, die rechte Nierenloge war leicht klopfdolent. Die Leber und die Milz waren nicht vergrössert tastbar. Es zeigte sich eine indolente zervikale, submandibuläre, axilläre und inguinale Lymphadenopathie. Die Mammae waren ohne Palpationsbefund, bei Stimulation entleerte sich wenig grünliches Sekret beidseits.
Im Labor zeigte sich eine ausgeprägte Eisenmangelanämie bei einem Hämoglobin von 34 g/L und einem Ferritin von 3,87 ng/ml. Die Thrombozyten waren leicht erhöht (479 000/µl), die Leukozyten (7430/µl), die Leukozyten-Differenzierung und das CRP (1,1 mg/l) normwertig. Auch das Kreatinin (65 µmol/l) und die Transaminasen (ASAT 10 U/l, ALAT 6 U/l) waren unauffällig (Tab. 1).

Kommentar

Zusammengefasst handelt es sich um eine 43-jährige, bisher gesunde Patientin mit Nachtschweiss, Gewichtsverlust und generalisierter Lymphadenopathie seit mehreren Monaten sowie schwerer Eisenmangelanämie bei vaginaler Blutung. Die Differentialdiagnose dieser klinischen Präsentation ist breit. Die Hauptkategorien sind maligne, infektiöse und autoimmune Erkrankungen. In der malignen Kategorie fallen zum einen Lymphome und Leukämien, zum anderen auch metastatische Tumorleiden. Hierbei vordergründig ein Zervixkarzinom aufgrund der uterinen Blutung oder ein Mammakarzinom aufgrund des mamillären Sekrets. Zu den infektiologischen Differentialdiagnosen zählen vordringlich HIV, Syphilis oder Tuberkulose aufgrund der
Anamnese der Patientin (ungeschützter Geschlechtsverkehr, Hepatitis B, positive Familienanamnese für Tuberkulose). Bei einer generalisierten Lymphadenopathie mit systemischen Symptomen kommt jedoch auch ein breiteres Erregerspektrum in Frage: Bakterien (nicht-tuberkulöse Mykobakterien, Brucellose, Tularämie, Bartonellose, Typhus), Pilze (Histoplasmose, Kryptokokkose), Parasiten (Toxoplasmose) oder Viren (Epstein-Barr-Virus, Zytomegalie-Virus). Auch autoimmune oder entzündliche Erkrankungen – wie systemisches Lupus Erythematodes, Rheumatoide Arthritis oder Sarkoidose – können ähnliche Symptome auslösen [1, 2]. Eine generalisierte Lymphadenopathie kann zudem durch Medikamente (Aspirin, Allopurinol, Antibiotika, Antikonvulsiva) oder Impfungen hervorgerufen werden, wobei die Patientin jegliche Medikamenteneinnahme verneinte. Letztlich müssen bei einem mamillären Sekret auch endokrine Ursachen, wie eine Hyperprolaktinämie, erwogen werden. Aufgrund der weiteren Symptome und Befunde sind primär endokrine Ursachen jedoch weniger wahrscheinlich.

Initiale Diagnostik

Bei unklarer Dynamik der symptomatischen Anämie stand deren Abklärung im Vordergrund. Nach Verabreichung eines Erythrozyten-Konzentrats und intravenöser Gabe von 1 g Eisen erfolgte eine gynäkologische Untersuchung mit Nachweis eines 20×16 mm messenden Uterusmyoms, das als ursächlich für die Blutungen betrachtet wurde.

Kommentar

Eine Eisensubstitution kann bei nachgewiesener Eisenmangelanämie ohne Abwarten der ätiologischen Abklärung etabliert werden. Bei schwerer symptomatischer Anämie kann ausserdem die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten indiziert sein [3]. Eine chronische Eisenmangelanämie hat aufgrund fehlender Evidenz keine universell akzeptierten Transfusionsgrenzen. Manche Gremien empfehlen die Transfusion nur bei hämodynamischer Instabilität oder Symptomen einer Sauerstoffunterversorgung (Angina pectoris, Synkope) [4]. Wenn kein Verdacht auf eine akute Blutung besteht, reicht häufig ein einziges Erythrozytenkonzentrat zur Behebung der Symptome. Die weitere Korrektur der Anämie erfolgt hauptsächlich über die Eisensubstitution sowie die jeweilige kausale Therapie des Eisenmangels [4].

Weiterführende Diagnostik

Anschliessend erfolgte die Diagnostik der Lymphadenopathie. Ein kontrastgestütztes CT des Thorax und Abdomens erbrachte den Nachweis einer axillären, hilären, mediastinalen, paraaortalen und inguinalen Lymphadenopathie (Abb. 1). Ein fassbarer Primarius konnte sonst nicht dargestellt werden. Pulmonal zeigten sich deutliche Hinweise chronisch bronchitisch exazerbierter Foci betont im Mittellappen und der Lingula, sowie im linken Unterlappen.
Abbildung 1: Computertomografie: Lymphadenopathie A) und B) hilär, C) axillär und D) inguinal.
Eine axilläre Lymphknotenbiopsie wurde geplant. Im Blut (Tab. 2) wurden bei einem positiven HIV-Suchtest im Bestätigungstest HIV-1-Antikörper und eine Viruslast von 33 400 Kopien/ml bei einer CD4-Zellzahl von 374/µl nachgewiesen. Die Syphilis-Serologie war positiv (TPHA 1:40960, RPR 1:32). Zusätzlich zeigten sich eine immunologisch-kontrollierte Hepatitis-B-Infektion sowie durchgemachte Infekte mit dem Zytomegalie-Virus und Toxoplasma gondii. Das Interferon γ Release Assay und die PCR-Untersuchung für M. tuberculosis im Sputum waren negativ. Die Kulturen von wiederholten Sputen zeigten kein Wachstum von Mykobakterien. Aufgrund der Anämie bei HIV-Infektion wurde zudem eine Parvovirus-B19-Infektion mittels PCR ausgeschlossen. In den Kulturen des mamillären Sekrets wuchs Staphylococcus aureus, resistent auf Methicillin (MRSA). Das Prolaktin und das TSH waren normwertig. Die Mammografie und die Sonografie der Mammae waren unauffällig. Die zytologische Untersuchung der Mamma- und Zervikalabstriche ergab keine Malignitätszeichen. Im Vaginalabstrich kam es zu Wachstum von Gardnerella vaginalis. Das Screening auf sexuell übertragbare Erkrankungen mittels PCR war positiv für Trichomonas vaginalis und negativ für Chlamydia trachomatis und Neisseria gonorrhoeae.

Kommentar

Eine nachgewiesene HIV-Infektion erklärt zum einen die Lymphadenopathie, zum anderen steigt in diesem Kontext die Wahrscheinlichkeit anderer Erkrankungen, die dieses klinische Bild auslösen können. Die Mehrheit (>90%) der Fälle einiger opportunistischer Erkrankungen wie Kryptokokkose, Histoplasmose oder Infekte durch Mykobakterium avium treten bei CD4-Zahlen unter 200/µl auf; bei einer Lymphadenopathie mit einer höheren CD4-Zahl stehen Lymphome, Kaposi-Sarkome, Morbus Castleman und die Tuberkulose sowie die HIV-Infektion selbst im Vordergrund [5, 6].
Die generalisierte Lymphadenopathie ist eine charakteristische Erscheinung der HIV-Infektion. HIV – ein lymphotropes Virus – kann innerhalb kürzester Zeit nach Infektion in regionalen Lymphknoten nachgewiesen werden. Nach wenigen Tagen kommt es zur Virämie und zur dauerhaften Besiedlung restlicher Lymphknotengruppen. HIV kann in allen Erkrankungsstadien zu konstitutionellen Symptomen (Fieber, Durchfall, Gewichtsverlust) führen: von der akuten Infektion bis zum «Wasting Syndrome» bei fortgeschrittener Erkrankung [7, 8]. Ein signifikanter Gewichtsverlust wird oft relativ früh im Krankheitsverlauf beobachtet, vor dem Auftreten einer relevanten Immunsuppression [8].
Eine antiretrovirale Therapie wird bei der Diagnose einer HIV-Infektion unabhängig vom Erkrankungsstadium empfohlen, nachdem im letzten Jahrzehnt mehrere Studien einen Morbiditäts- und Mortalitätsvorteil sowie eine reduzierte Übertragung nachgewiesen haben [9].

Die Therapie

Eine antiretrovirale Therapie mit Bictegravir/Emtricitabin/Tenofovir alafenamid (Biktarvy®) wurde eingeleitet. Aufgrund des inzwischen gebesserten Allgemeinzustandes wurde entsprechend dem Wunsch der Patientin entschieden, auf die Lymphknotenbiopsie vorerst zu verzichten und den Verlauf unter antiretroviraler Therapie engmaschig zu beobachten. Eine generalisierte Lymphadenopathie bei Syphilis – einer sekundären Syphilis entsprechend – wird mit einer Einzeldosis Benzathin-Benzylpenicillin behandelt. Da HIV als Ursache der Lymphadenopathie, bei fehlenden sonstigen Syphilis-Symptomen, wahrscheinlicher erschien, wurde die Therapie entsprechend einer latenten Syphilis unklarer Dauer verlängert (intramuskuläres Benzathin-Benzylpenicillin wöchentlich für drei Wochen). Bei vaginalem Ausfluss wurden die Trichomoniasis und die bakterielle Vaginose mit oralem Metronidazol behandelt. Bei fehlenden klinischen Hinweisen für eine Mastitis sowie unauffälliger radiologischer, zytologischer und endokrinologischer Abklärung entsprach das bilaterale grünliche mamilläre Sekret am ehesten einer physiologischen Mamillensekretion.
Zusammenfassend diagnostizierten wir bei Müdigkeit, Anstrengungsdyspnoe, Gewichtsverlust, Nachtschweiss und generalisierter Lymphadenopathie eine HIV-Infektion, eine schwere Anämie bei abnormer uteriner Blutung durch ein Uterusmyom sowie eine Syphilis und konnten weitere Ursachen dieser Beschwerden ausschliessen. Eine CT-Kontrolle zwei Monate nach Therapiebeginn zeigte eine deutliche Regredienz der Lymphadenopathie. Die Patientin berichtete über eine nahezu vollständige Beschwerdefreiheit. Nach mehrmaliger Eisensubstitution und unter Therapie mit oralem Desogestrel und Tranexamsäure zeigte sich initial ein adäquater Anstieg des Hämoglobins, bei partiell persistierender abnormer uteriner Blutung mit schwankenden Hämoglobin-Werten ist jedoch eine Hysterektomie als definitive Therapie geplant.

Konklusion

Die HIV-Inzidenz in der Schweiz ist seit den 90er Jahren deutlich zurückgegangen. 2021 wurden 318 neue Fälle gemeldet, davon ein Viertel bei Frauen – in den allermeisten Fällen nach heterosexuellen Kontakten. Während Fälle bei Einheimischen oft durch Screening in einem früheren Stadium entdeckt werden, findet man bei zugewanderten Personen öfters fortgeschrittene Erkrankungsstadien [10]. Mit vielfältigen Manifestationen der viralen Infektion und einem erhöhten Risiko für ein breites Spektrum an weiteren infektiösen und neoplastischen, aber auch autoimmunen und kardiovaskulären Erkrankungen, gehört eine HIV-Abklärung weiterhin zur Diagnostik der meisten unklaren systemischen Beschwerden.

Take-Home Message

  • Eine Eisenmangelanämie wird primär mittels Eisensubstitution behandelt; die Transfusion von Erythrozyten sollte sich hauptsächlich nach Symptomen, nicht lediglich nach Grenzwerten, richten.
  • Eine generalisierte Lymphadenopathie mit systemischen Symptomen hat eine breite Differentialdiagnose an neoplastischen, infektiösen und autoimmunen Erkrankungen.
  • Die generalisierte Lymphadenopathie ist eine sehr häufige Erscheinung der HIV-Infektion. Andere durch HIV begünstigte Ursachen sollten ebenfalls in Betracht gezogen werden.
Tudor Cosma
Kantonsspital Baden,
Im Ergel 1,
CH-5404 Baden
tudor.cosma[at]ksb.ch
1 Gaddey HL, Riegel AM. Unexplained Lymphadenopathy: Evaluation and Differential Diagnosis. Am Fam Physician. 2016 Dec;94(11):896–903.
2 Brown JR, Skarin AT. Clinical mimics of lymphoma. Oncologist. 2004;9(4):406–16.
3 Snook J, Bhala N, Beales IL, Cannings D, Kightley C, Logan RP, et al. British Society of Gastroenterology guidelines for the management of iron deficiency anaemia in adults. Gut. 2021 Nov;70(11):2030–51.
4 Callum JL, Waters JH, Shaz BH, Sloan SR, Murphy MF. The AABB recommendations for the Choosing Wisely campaign of the American Board of Internal Medicine. Transfusion. 2014;54(9):2344–52.
5 Clinicalinfo.HIV.gov [Internet]. Rockville: Panel on Guidelines for the Prevention and Treatment of Opportunistic Infections in Adults and Adolescents with HIV. Guidelines for the Prevention and Treatment of Opportunistic Infections in Adults and Adolescents with HIV. National Institutes of Health, Centers for Disease Control and Prevention, HIV Medicine Association, and Infectious Diseases Society of America [cited 2023 Oct 22]. Available from: https://clinicalinfo.hiv.gov/en/guidelines/hiv-clinical-guidelines-adult-and-adolescent-opportunistic-infections/whats-new. [Pages H-1, K-1, O-1, P-1, W-1, X-1, Y-1, CC-1].
6 Meister A, Hentrich M, Wyen C, Hübel K. Malignant lymphoma in the HIV-positive patient. Eur J Haematol. 2018 Jul;101(1):119–26.
7 Kahn JO, Walker BD. Acute human immunodeficiency virus type 1 infection. N Engl J Med. 1998 Jul;339(1):33–9.
8 Mangili A, Murman DH, Zampini AM, Wanke CA, Mayer KH. Nutrition and HIV infection: review of weight loss and wasting in the era of highly active antiretroviral therapy from the nutrition for healthy living cohort. Clin Infect Dis. 2006 Mar;42(6):836–42.
9 EACS Society [Internet]. Brussels: EACS Guidelines version 11.1, October 2022 [cited 2023 Sep 19]. Available from: https://www.eacsociety.org/media/guidelines-11.1_final_09-10.pdf.
10 BAG-Bulletin 45 vom 7. November 2022. Sexuell übertragene Infektionen und Hepatitis B/C in der Schweiz im Jahr 2021: eine epidemiologische Übersicht. Bundesamt für Gesundheit. ISSN 1420-4266.
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