Von der Kuh auf den Hund gekommen
Serie «Porträts von visionären Pionierinnen und Pionieren der Medizin», Teil 1

Von der Kuh auf den Hund gekommen

Reflexionen
Ausgabe
2024/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2024.1511728331
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2024;24(08):239-240

Affiliations
Institut für Hausarztmedizin, Universitätsspital Zürich, Universität Zürich, Zürich

Publiziert am 14.08.2024

Was Kühe und Hunde mit bahnbrechenden Entdeckungen im 18. Jahrhundert zu tun haben, welche die Humanmedizin bis heute prägen, erfahren Sie in diesem Artikel. Lesen Sie, wie Beobachtungsgabe in Kombination mit Zufall, Geduld und Hartnäckigkeit schliesslich zum Erfolg führte.

Serie: Porträts visionärer Pionierinnen und Pioniere der Medizin

Lesen Sie in dieser Serie von Pionierinnen und Pionieren der Medizin. Von Neugier getrieben, verfolgten sie trotz Rückschlägen beharrlich ihre Ideen, und schrieben schliesslich Medizingeschichte. Von ihren Entdeckungen profitieren Patientinnen und Patienten noch heute. Was steckt hinter ihren Lebensgeschichten? Lassen Sie sich informieren von Wikipedia-Fakten und beeindrucken von all den Legenden, die sich um diese Persönlichkeiten ranken.
© Caroline Murphy

Entdeckung auf dem Lande

Wir schreiben das Jahr 1768. Pockenepidemien grassieren in regelmässigen Abständen in Europa und Übersee, mit hohen Opferzahlen unter der Bevölkerung und ganz besonders unter Kindern. John Fewster, ein junger Landarzt und Apotheker, ist auf Visite in seinem Landspital in Gloucestershire. Heute besucht er ein Dutzend Patientinnen und Patienten, die er kürzlich mit Pockensekret inokuliert hat. Das ist eine relativ neue, aus der Türkei importierte Methode, wie man sich vor der Gefahr einer schweren Pockeninfektion schützen kann: Wenn man Sekret aus den Blasen einer pockenerkrankten Person in die angeritzte Haut von Gesunden einreibt, dann erkranken die Behandelten meistens nur leicht und sind vor einem gefährlichen Verlauf dauerhaft geschützt. In der Regel funktioniert diese Inokulation genannte Methode – ab und zu überlebt sie die Patientin oder der Patient aber nicht. Jedenfalls ist Vorsicht geboten, und darum findet die Inokulation vorzugsweise unter stationären Bedingungen statt.
Auf der Visite wundert sich der junge Arzt nun, dass einem seiner Patienten die übliche Blasenbildung am Inokulationsort komplett fehlt. Fewster folgert daraus, dass der Patient, ein Bauer, bereits immun gegen die Infektionserreger sein muss. Der Bauer erzählt ihm als nächstes, er habe kürzlich eine Kuhpockeninfektion durchgemacht. Für Kühe bedeutet diese Pockenvariante eine erhebliche Krankheitslast, für Menschen ist sie aber harmlos. Fewster, ein heller Kopf, schaltet rasch: er befragt von nun an alle Inokulierten, die ebenfalls keine Hautreaktion an der Inokulationsstelle zeigen, gezielt nach Kuhpocken. Und siehe da: Alle haben sie die Kuhpocken durchgemacht! Ein natürlicher Schutzfaktor ist gefunden.
Beim nächsten Ärztetreffen im Pub berichtet der junge Arzt seinen Kollegen von der Beobachtung. Unter diesen sind zwei Ärzte, bei denen der 19-jährige Edward Jenner gerade ein Praktikum absolviert. Ihn wird diese Fragestellung während der nächsten Jahrzehnte nicht mehr loslassen, und zu einer wissenschaftlichen Karriere beflügeln.

Die Familie als Versuchsobjekt

Auch anderswo in Europa experimentieren Ärzte mit der Kuhpocken-Inokulation. Etwa gleichzeitig wie Fewster inokuliert ein Bauer in Südengland, Benjamin Jesty, seine Familie mit Kuhpockenmaterial, und zwar mithilfe von Stricknadeln… Autsch. Mutig oder kaltblütig? Jedenfalls exponiert er Frau und Kinder wiederholt mit Pockenserum, um sich der Schutzwirkung seiner Methode zu vergewissern. Jenner selbst lässt sich als sorgfältiger Forscher mehr Zeit: Es vergehen fast 30 Jahre mit Beobachtungen und Fallstudien, bevor er sich 1796 an den ersten dokumentierten Versuch am Menschen macht. Er inokuliert einem 8-jährigen Buben etwas Sekret aus der Pustel einer Melkerin, die an Kuhpocken erkrankt war. Wie erwartet erkrankt der Junge leicht an Kuhpocken. Sechs Wochen später impfte er ihm mehrmals Sekret eines an echten Pocken erkrankten Patienten ein. Nichts passiert – der Junge bleibt gesund. Die Wissenschafts-Community und die Öffentlichkeit reagieren zunächst einmal kritisch: In den Zeitungen erscheinen Karikaturen, in denen sich Patientinnen und Patienten nach der Jenner’schen Impfung in Kühe verwandeln…
Es müssen mehr Beweise, also neue Probandinnen und Probanden her. Jenner ist so überzeugt von der Wirksamkeit der Methode, dass auch er sein eigenes Kleinkind damit behandelt. Glücklicherweise mit Erfolg, und bald häufen sich weitere Erfolge. Jenner benennt, beschreibt und propagiert sie: Die von der Kuh stammende Methode – lateinisch vaccinus, nach vacca, der Kuh – heisst nun Vakzination und etabliert sich in den folgenden Jahren rasch. Noch heute reden wir von Vakzinen.
© Amarievikka | Dreamstime.com

Der Destillier-Professor

Szenenwechsel nach Lille, Frankreich, ein Jahrhundert später. Ein junger Professor für Physik und Chemie namens Louis Pasteur interessiert sich für die Prozesse der Gärung. Der Professor ist häufig in den Destillerien rund um Lille anzutreffen (rein beruflich, versteht sich). Zuerst beschreibt er Mikroorganismen, die sich bei der Gärung herumtummeln, und Jahre später gelingt dem inzwischen 58-jährigen arrivierten Forscher in einem einzigen Jahr die Entdeckung von wichtigen Krankheitserregern wie der (Hühner-) Cholera, des Staphylokokkus, des Streptokokkus und des Pneumokokkus.
Nun sagt Pasteur den Krankheitserregern den Kampf an. Die Inokulationsmethode, die schon bald hundert Jahre alt ist, muss sicherer für die Probandinnen und Probanden werden, und verlangt somit nach abgeschwächten Krankheitserregern. Pasteur attackiert die Krankheitserreger mit Kombinationen aus Hitze, Sauerstoff und Chemikalien – daher der Name Pasteurisieren für eines dieser Hitzeverfahren zur Beseitigung von Krankheitserregern. Kaninchen, Affen und Hunde müssen als Versuchstiere herhalten, um die verschiedenen Methoden und Konzentrationen zur Abschwächung von Tollwut-Erregern systematisch zu untersuchen.

Auf den Hund gekommen

1885: Wer kann den schwer verletzten 9-jährigen Hirtenjungen retten? Gerade war er von einem tollwütigen Hund übel zugerichtet worden und ist übersät von tiefen Bisswunden. Ist sein Schicksal besiegelt, elend an der Tollwut zu sterben? Pasteur und sein Team wagen es, ihren abgeschwächten Tollwut-Impfstoff erstmals am Menschen einzusetzen, um die Immunantwort zu unterstützen – und der Junge überlebt. Eine Sensation! Nun fliessen Mittel und Ehrungen reichlich ans Institut Pasteur und seinen Meister. Die nächste Ära beginnt: Die neuen Impfstoffe werden nun in grossen Mengen industriell produziert. Wirksamkeit und Masse machen es aus – Epidemien können dank der breiten Verfügbarkeit von Impfstoffen rascher als bisher eingedämmt und unzählige Leben gerettet werden. Auch wenn Pasteur von seinen Biographen als starrsinniger, autoritärer und humorloser Mensch gezeichnet wird und vielleicht nicht der einzige Erfinder der Schutzimpfung ist, hat er die moderne Mikrobiologie und Infektiologie begründet. Alles andere als auf den Hund gekommen!
Prof. Dr. med.
Stefan Neuner-Jehle
Institut für Hausarztmedizin
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
stefan.neuner-jehle[at]usz.ch

© Caroline Murphy

Mit der Kommentarfunktion bieten wir Raum für einen offenen und kritischen Fachaustausch. Dieser steht allen SHW Beta Abonnentinnen und Abonnenten offen. Wir publizieren Kommentare solange sie unseren Richtlinien entsprechen.