Palliative Care Commitment
Betreuung durch alle Lebensphasen: 3 Fallvignetten

Palliative Care Commitment

Arbeitsalltag
Ausgabe
2024/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2024.1409484857
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2024;24(04):108-110

Affiliations
a Kinder- und Jugendärztin in Brunnen, Delegierte von pädiatrie schweiz & Kinderärzte Schweiz
b Institut de médecine de famille, université de Fribourg, représentant SSMIG
c Service de médecine palliative, Hôpitaux Universitaires Genève, représentante palliative.ch
d Médecin interniste généraliste, installé à Aubonne, représentant mfe
e Hausärztin in Meiringen, mfe-Delegierte für Palliative Care

Publiziert am 10.04.2024

Die fünf Verbände SGAIM, pädiatrie schweiz, Kinderärzte Schweiz, mfe und palliative.ch bejahen den Grundsatz, dass Palliativpatientinnen und -patienten regional und in einem interprofessionellen Setting betreut werden. Sie setzen sich dafür ein, dass unter ihren Mitgliedern die Standards und Tools der Palliative Care (wie Rundtischgespräche, Betreuungsplan, Advanced Care Planning und Assessement wie beispielweise nach dem SENS-Modell [1]) bekannt sind und der erhöhte Arbeitsaufwand, der gerade auch in der Kindermedizin über den Tod hinaus geht (Nachbetreuung), adäquat entgolten wird.

Was wollen wir mit diesem Commitment bezwecken?

Das Commitment bildet die Grundlage für die Arbeit der gemeinsamen Arbeitsgruppe Palliative Care von mfe, pädiatrie schweiz, Kinderärzte Schweiz und der SGAIM. Zum besseren Verständnis folgen hier einige Gedanken, die selbst nicht teil des Commitments sind:
Palliative Care erfordert in beispielhafter Weise eine gute Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Fachpersonen auf regionaler und oft auch überregionaler Ebene. Die Fachgesellschaften bejahen den Willen zur Zusammenarbeit explizit und ermuntern ihre Mitglieder, dabei eine aktive Rolle zu übernehmen.
In der Palliative Care gibt es eigene Arbeitsweisen, die teilweise noch zu wenig unter Ärztinnen und Ärzten bekannt sind. Die Fachgesellschaften tragen Sorge, dass die Palliative Care in die Lehrpläne der Aus-, Weiter- und Fortbildung integriert ist.
In der Palliative Care fällt ausgesprochen viel Arbeitsaufwand in Abwesenheit der Patientinnen und Patienten an. Nach dem Prinzip «keine Arbeit ohne Lohn» soll dieser adäquat entgolten werden. Die Betreuung der Familien auch über den Tod hinaus ist Teil der Palliative Care. Dies ist oft in der Erwachsenenmedizin der Fall und noch öfter bei den Kindern. Manchmal ist unklar, wie diese Arbeit abgerechnet werden soll. Die Abrechnungsmöglichkeiten innerhalb des bestehenden Tarifes sollen unter den Mitgliedern der Verbände bekannt sein.
Grundsätzliches zur pädiatrischen Palliative Care (PPC) zeigt der Artikel von Streuli und Bergsträsser [2] sehr klar auf: «Bei Kindern und Jugendlichen geht es in der PPC oftmals nur sehr entfernt um das Lebensende. Im Vordergrund stehen das Leben und die Lebensqualität, häufig unter dem besonderen Umstand einer komplex-chronischen Erkrankung.» Dies erläutern die folgenden zwei Fallvignetten auf anschauliche Weise.

Fallvignette Pädiatrie 1

Tina H. (Name geändert) wird im Mai 2018 in der 38. Schwangerschaftswoche mit 2600 Gramm als zweites Kind der Familie geboren.
Präpartal wurde die Verdachtsdiagnose einer Arthrogryposis geäussert. Schon vor der Geburt hatten die Eltern Kontakt mit dem Palliativteam des Kinderspitals. Tina zeigt bei Geburt klinisch eine Arthrogryposis multiplex congenita mit multiplen Kontrakturen der Extremitäten sowie fraglichen Hüftluxationen und Klump-/Sichelfüssen bilateral. Status nach Femurfraktur links und Humerusschaftfraktur rechts peripartal. Genetisch zeigt sich eine Duplikation 11p15.5-15.4 (codiert Beckwith-Wiedemann, Silver Russel-Syndrom).
Postpartal bleibt Tina zwei Monate im Kinderspital. Der Austritt nach Hause erfordert eine intensive Vorbereitung und Koordination mit der ambulant fallführenden Pädiaterin, der KinderSpitex und den Therapeuten. Die Begleitung dieses komplex erkrankten Kindes zu Hause gestaltet sich anspruchsvoll. Immer wieder kommt es zu Erbrechen mit grau-lividem Hautkolorit, zu Infekten der oberen Luftwege und zu Fragen betreffend der Behandlung. Die Familie ist jedoch sehr dankbar, zu Hause sein zu dürfen. Im Oktober 2018 akute Verschlechterung und Verlegung mit der Rega ins Kinderspital.
Ab November 2018 verbringt Tina einzelne Tage im Kinderheim Weidmatt zur Entlastung der Familie. Eine spezialisierte Logopädin nimmt sich der Fütter- und Essproblematik an. Ab Januar 2019 wird ein Sauerstoffkonzentrator angeschafft bei langsamer Gesamtverschlechterung. Ab Februar 2019 benötigt Tina 24h Sauerstoff. Es findet ein grosses Rundtischgespräch zu Hause statt, an welchem alle Themen inklusive Versterben besprochen werden. Die Eltern möchte weiterhin bei voller Rea bleiben.
Ab dem 9.3.2019 erschwerte Atmung, keine relevante Linderung durch Inhalationen. Auf Wunsch der Eltern Zuweisung ins Kinderspital zur Highflow-Therapie, dort initial Stabilisierung. In der Nacht auf den 17.3. Verschlechterung und Entscheid zur “Reduction of Care” in einem gemeinsamen ethischen Gespräch unter Beizug der ambulanten Pädiaterin. Tina verstirbt am 18.3.2019 friedlich im Beisein ihrer Eltern.
Am selben Tag nahmen die Eltern Tina nach Hause und die ambulante Pädiaterin begleitete die Familie, informierte das ambulante Betreuungsteam, beriet hinsichtlich Formalitäten und möglichen Ritualen für die Beerdigung. Bis zum heutigen Tag begleitet sie die Familie im Trauerprozess. Die Schwester besuchte in der Zwischenzeit eine Figurenspieltherapie und ein Trauerangebot für Geschwisterkinder.
Abbildung 1: Foto von Tina (mit freundlicher Genehmigung der Eltern).

Fallvignette Pädiatrie 2

Rafael S., geboren am 11.9.2014 – unauffällige Schwangerschaft und Geburt am Termin, 2. Kind der Familie (Schwester geboren im Juli 2009).
Bis zum 1. Geburtstag reguläres Erreichen der «Meilensteine». Nach dem 1. Geburtstag Verlangsamung der motorischen Fortschritte, mit ungefähr 16 Monaten Stagnation. Zuweisung der Hausärztin zum Pädiater mit 24 Monaten und bei Verdacht auf eine neuromuskuläre Erkrankung Weiterweisung ins Kinderspital. Diagnose: Progrediente Neurodegenerative Erkrankung – eine sehr seltene autosomal rezessiv vererbte lysosomale Speicherkrankheit aus der Gruppe der Sphingolipidosen: GM 2 Gangliosidose/M. Sandhoff (infantile Form) mit frühem Versterben.
Verlauf: Beginn der ambulanten palliativen Begleitung im Dezember 2016. Januar 2017 PEG-Einlage, Mai 2017 Button-Einlage. Antikonvulsive Therapie mit Valproat, ab Ende Oktober 2017 Valproat und Levetiracetam.
Am 14.9.2017 Allgemeinzustandsverschlechterung: Erbrechen, blasses Kolorit, apathisch, kachelnde Atmung – danach wieder Stabilisierung. Ab dem 21.11.2017 tägliche Kontakte wegen Erbrechen, Würgen, etc. Am 26.11.2017 grosses Familien-Geburtstagsfest des Grossvaters. Gegen Abend des 26.11.2017 – die Feier neigt sich dem Ende zu – zunehmende Verschlechterung, apathisch, karchelnde Atmung. In den ersten Stunden des 27.11.2017 durfte Rafael friedlich im Beisein seiner Eltern zu Hause versterben.
Die ambulante Pädiaterin und initial auch die KinderSpitex begleitete anschliessend die Familie im Trauerprozess, bei der Vorbereitung der Beerdigung, des Jahrestages und bei emotionalen Verschlechterungen einzelner Familienmitglieder.
Die Begleitung von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien erstreckt sich häufig über Jahre oder Jahrzehnte – und oft parallel zu kurativen Behandlungsversuchen. Es ist besonders schön zu erleben, wie sich die Kinder trotz ihrer Erkrankung im Rahmen ihrer Möglichkeiten entwickeln. Gerade in der pädiatrischen Palliative Care geht es immer um die ganze Familie und eine gute Trauerbegleitung ist essentiell.
Abbildung 2: Foto von Rafael (mit freundlicher Genehmigung der Eltern).
Abbildung 3: Foto von Rafael mit seinem bemalten Sarg (mit freundlicher Genehmigung der Eltern).

Fallvignette 3

Eine 53-jährigen Frau, die in einer abgelegenen ländlichen Region lebte und keinen Hausarzt hatte, meldete sich wegen Kopfschmerzen in der Praxis eines Kollegen. Schnell war klar, dass sie nicht ambulant betreut werden konnte, sie wurde hospitalisiert und die Diagnose ergab ein fortgeschrittenes Bronchuskarzinom, ausgedehnt metastasierend mit Hirnmetastasen als Ursache ihrer Kopfschmerzen. Ich wurde gebeten, die hausärztliche Betreuung zu übernehmen.
Ich arbeite seit 6 Jahren angestellt in einem Ärztezentrum an fünf Halbtagen. Wir sind mehrere Angestellte, stellen die hausärztliche Versorgung von Mo–Sa sicher und beteiligen uns am ärztlichen Notfalldienst. Ich habe den Basiskurs von palliative.ch absolviert und werde oft angesprochen, wenn es um die Betreuung Sterbender geht. Dank der Zusammenarbeit mit der in Palliative Care sehr erfahrenen Spitex ist meine Anwesenheit ausserhalb meiner regulären Arbeitszeit in der Regel nicht erforderlich.
Sie kam an einem Freitagmittag liegend und mit Sauerstoff aus dem weit entfernten Zentrumsspital nach Hause und wurde von der Spitex in Empfang genommen, die vorher die Verordnungen aus dem Spital von mir hat abzeichnen lassen. Ein Hausbesuch war mir vor dem Wochenende nicht mehr möglich. Beim Hausbesuch in der folgenden Woche sah ich dann eine kachektische bettlägerige Patientin mit Dekubitus am Steissbein sowie Lähmung und Einflussstauung des rechten Armes duch Tumorinfiltration. Schmerzen und Atemnot waren mit Morphin kontrolliert. Sie war wach und ansprechbar. Augenfällig war, wie stark die Wahrnehmung der Situation zwischen ihrem Mann und der Patientin differierte. Sie wollte gesund werden, liess sich hoffnungsvoll Clexane gegen mögliche Lungenembolien spritzen. Über Tod und Sterben wollte sie nicht sprechen. Er hatte hingegen erfasst, dass es sich um ihre letzten Lebenstage handelte, war durch den schnellen Verlauf überfordert und hätte die Pflege gerne vollständig in professionelle Hände gegeben. So kurzfristig konnte man jedoch keine Sitzwache für die Nacht organisieren und niemanden, der ihr bei Bedarf Morphintropfen hätte geben können. Das Gespräch mit den Mann dauerte beim Hausbesuch länger als das mit der Patientin, mit der die Spitex mehr zu tun hatte als ich. Er war schlussendlich durch die Situation gezwungen, sich mehr einzubringen, als er eigentlich bereit war. Dies führte rasch zu einer symptomatische Belastungsstörung, welche zusätzliche Behandlung erforderte.
Gerne hätte ich ein Rundtischgespräch durchgeführt und einen Betreuungsplan nach den Vorstellungen der Patientin erstellt. Da sie sich weigerte zu sehen, dass ihr Lebensende gekommen ist, und ihr Mann ihr nicht ihre Hoffnung nehmen wollte, war dies aber nicht möglich. So haben sich die Spitex und ich so gut nach bestem Wissen und Gewissen möglich zu den Verordnungen abgesprochen und haben bei Unsicherheiten Rat beim MPD (Mobiler Palliativer Dienst am Spital) geholt.
Ihr Mann hatte sich Hilfe durch Freunde aus der Zentrumsregion organisiert, die mit der Familie kamen, um ihre Ferien in dem abgelegenen Tal zu verbringen und ihr beizustehen. Hilfe aber auch Belastung durch den Besuch, aber immerhin war er so mit seiner sterbenden Frau nicht allein. Schlussendlich verstarb die Patientin nur zwei Wochen nach der Spitalentlassung im Beisein ihres Mannes und den Freunden.
Sie war sehr unbefriedigend von uns allen betreut. Es war seit Diagnosestellung nur ein Monat vergangen. Wir konnten die Symptome knapp medikamentös in Schach halten und die Spitex hatte die gesamte Körperpflege gemeistert. Begleitende Gespräche, die wir im Angesicht des Todes so bedeutsam finden, fanden aber nicht statt und das fehlte uns. Aber vielleicht, so mussten wir realisieren, war das eher unser Problem als ihres.
Bis auf das Gespräch beim allerersten Besuch habe ich die Zeit, die ich mit den Mann der Patientin verbracht habe, über sein Krankenkasse abgerechnet, da er für seinen Teil selbst versichert ist.
Die Hausbesuche mit dem langen Hin- und Rückweg gingen vollständig zulasten der Krankenkasse der Patientin. Die Arbeit in Abwesenheit überschritt in dieser kurzen Zeit die Limitationen nicht. So konnte der gesammte erbrachte Zeitaufwand korrekt abgerechntet werden.
Auch wenn in diesem speziellen schnellen Verlauf einer uns vorher nicht bekannten Patientin ein unbefriedigendes Gefühl zurückblieb, lieben die Spitex und ich das gemeinsame Zusammenspiel bei der Betreuung von Sterbenden und ihren Angehörigen. Die dabei entstehenden Interaktionen sind etwas ganz Besonderes. In der Regel bleibt das Gefühl zurück, etwas Sinnvolles getan zu haben. Es gehört für mich zu den zahlreichen schönen Aufgaben in der Hausarztmedizin.
Im PHC 02/2020 wurde bereits ein Artikel zum Thema veröffentlicht. Diesen finden Sie hier: https://phc.swisshealthweb.ch/de/article/doi/phc-d.2020.10189/
Professeure Sophie Pautex
HUG, service de médecine palliative
Ch de la Savonnière 11
CH-1245 Collonge-Bellerive
Sophie.pautex[at]hcuge.ch
1 Eychmüller S. SENS macht Sinn – Der Weg zu einer neuen Assessment-Struktur in der Palliative Care. Therapeutische Umschau 2012;69(2):87–90.
2 Bergsträsser E. Streuli J. Wenig Lebenszeit mit möglichst viel Lebensqualität Schweizerische Ärztezeitung; 2023;104:24–29.
Verdankung
Wir danken den verschiedenen an diesem Projekt beteiligten Fachgesellschaften für das Korrekturlesen und die Validierung.
Conflict of Interest Statement
SJ: Lesson for the medical assistant candidate to the federal brevet called “coordinator in ambulatory medicine” in the learning center "Espace compétence” in Cully and Quadrimed Congress round table and other swiss medical congress with support from mfe-swiss medical association for general practitioner and paediatrician. Vice-president of mfe, swiss association of general practitioners and paediatricians. President of the swiss plateform for interprofessional collaboration in primary care.
MO: Member of the PPCN CH steering group, member of the board of Palliativ Zentralschweiz, member of the mfe
working group, SGAIM, KIS, pädiatrie schweiz.
RP-Y : Grants from Leenaards foundation, Office federal de l’environnement (OFEV). Honoraria for lectures or workshops in different medical and paramedical congresses. Member of the Committee of the Swiss society of general internal medicine.
KE: Palliative Care working group SGAIM/mfe/pädiatrie schweiz.
SP: L’auteure a déclaré ne pas avoir de conflits d'intérêts potentiels.
Author Contributions
Konzept: alle Autoren; MO und EK haben die Fälle geschrieben; alle Autoren haben an der Erstellung des Committments mitgewirkt. Alle Autoren haben das eingereichte Manuskript gelesen und sind für alle Aspekte der Arbeit mitverantwortlich.

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