Alltagsanwendung von künstlicher Intelligenz in der Qualitätsarbeit bei der medizinischen Fortbildung

Goodbye Guidelines für Grundversorgende – welcome ChatGPT?

Reflexionen
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.1288315986
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(11):348-349

Affiliations
mednetbern AG

Publiziert am 01.11.2023

Ausgangslage

Das Ärztenetzwerk mednetbern hat sich im Bereich der Qualitätsarbeit seit 2010 mit der Erarbeitung von medizinischen Guidelines für Grundversorgende einen Namen gemacht [1]. Mittlerweile sind etliche Guidelines erschienen und haben es bis zur Publikation im Organ unserer nationalen Fachgesellschaft und bei der FMH geschafft. Jede Initiative zur Qualitätsarbeit muss jedoch weiterentwickelt werden.
Die Älteren unter uns mussten noch Wochen und Monate auf Fotokopien von Artikeln ausländischer medizinischer Zeitschriften für die Sekundärliteratur unserer Dissertationen warten. Die jüngeren Kolleginnen und Kollegen sind mit der Alltäglichkeit der immediaten Informationsbeschaffung durch die Suchmaschinen des Internets aufgewachsen. Die neuste Entwicklung ist die Synthese der automatisch beschafften Informationen zu einem von uns gewünschten Produkt, bewerkstelligt durch künstliche Intelligenz. Die Ergebnisse sind für manche von uns überraschend, ja unheimlich.
Im Finanzbereich existieren seit mehreren Jahren Anlagefonds, die grösstenteils mit künstlicher Intelligenz gemanagt werden [2]. Sie haben die Börsenturbulenzen durch Pandemie und Ukrainekrieg gut überstanden und ihre Performance steht den konventionell gemanagten Fonds in nichts nach. Uns interessierte deshalb, ob das, was für einen Anlagefonds funktioniert, nicht auch bei der Erarbeitung medizinischer Guidelines funktionieren kann.

Methodik und Ergebnisse

Guidelines haben es in sich, denn sie brauchen von Zeit zu Zeit ein Update. Als jetzt wieder ein solches Update für unsere COPD-Guideline [3] anstand, wagten wir das Experiment und starteten einen Chat mit ChatGPT [4] in deutscher Sprache. Im ersten Versuch befragten wir den Chatbot [5] allgemein nach einer «Guideline für COPD für Hausärzte». Die Antwort von ChatGPT war mit einer A4-Seite eher knapp, aber erstaunlich gut. In einem zweiten Schritt folgten wir mit unseren Fragen exakt dem bewährten Gerüst unserer bisherigen Guidelines, also der Reihe nach: ICD-10-Code, Definition, Anamnese mit ihren Untergruppen und so weiter. Die Qualität der Antworten und ihre Darstellung ist überwältigend. Auf die Frage, welche Befunde bei Patientinnen und Patienten mit COPD den Entscheid zur Verordnung eines inhalierbaren Kortikosteroids (ICS) begünstigen, antwortete der Chatbot wörtlich, dass «Eosinophilen-Werte über 300 Zellen/µL oft als ein Indikator dafür betrachtet werden, dass ein Patient von der Zugabe eines ICS profitieren könnte». Damit waren unsere letzten Zweifel an der Zuverlässigkeit des Systems ausgeräumt.
Das Datum September 2021 des aktuellen Wissensstands des Chatbots liegt etwas zurück. Deshalb ist die ersatzlose Zusammenführung der beiden früheren Risikogruppen C und D zur neuen Gruppe E im Assessment-Tool von GOLD-2023 [6] noch nicht enthalten. (Anmerkung der Autoren: Nicht so schlimm. In den Augen des Praktikers war es ohnehin längst klar, dass die Exazerbationen bei COPD stärker zu gewichten sind als die nackten spirometrischen Zahlen.)

Es geht nicht ohne uns!

Wir haben die praktische Erfahrung gemacht, dass die Qualität der Antworten des Chatbots von der Qualität unserer Fragen abhängt. Diese Antworten müssen der Wertung und Gewichtung durch uns unterzogen werden, zur Sicherstellung unserer Unabhängigkeit. Der Chatbot sammelt zwar vorhandenes Wissen, gewichtet es jedoch nicht. Die Formulierung der Fragen und die Wertung und Gewichtung der Antworten sind kreative Voraussetzungen, die unsere hausärztliche Expertise vorerst noch unverzichtbar machen. Obwohl wir als erfahrene Ärztinnen und Ärzte die Kunst der Anamneseerhebung beherrschen, kann ein Tutorial für das zielführende Befragen des Chatbots nicht schaden.

Schlussfolgerung und Ausblick

Angesichts dieser Ergebnisse müssen wir uns fragen, ob unser bisheriger Zeitaufwand von hunderten, kumuliert tausenden von Stunden für die Guideline-Erarbeitung weiterhin gerechtfertigt ist. Zur Klärung dieses Sachverhalts wird ein Anhörungs- und Konsensusverfahren unter den beteiligten Netzwerkmitgliedern notwendig sein.
Retrospektiv können wir – etwas provokativ formuliert – feststellen, dass wir mit unseren bisherigen Guidelines «den Standardpatienten bzw. die Standardpatientin» sehr wohl bedienen konnten. Aber in unserer Praxis haben wir es mit einzigartigen Individuen mit ihrer einmaligen Geschichte zu tun. Der enorme Zeitgewinn durch den Einbezug des Chatbots in die Herausarbeitung der klassischen Aspekte von Guidelines eröffnet uns ganz neue Möglichkeiten. Die Weiterentwicklung unserer Qualitätsarbeit wird sich vermehrt mit patientenzentrierter Outcome-Orientierung befassen. Im Fokus werden Werte wie die Lebensqualität und der emotionale Zustand unserer Patientinnen und Patienten stehen.
© Sinlapachai Jaijumpa | Dreamstime.com
Die Autoren und die Autorin bestätigen, dass der Text nicht von ChatGPT geschrieben worden ist.
Die Autorinnen und Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu
haben.
Dr. med. Amato Giani
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin
Praxis Giani, mednetbern AG
Sidlerstrasse 4
CH-3012 Bern
amato.giani[at]hin.ch
1 mednetbern.ch [Internet]. Bern: mednetbern AG; Guidelines und Publikationen [cited 2023 Oct] Available from: