Häusliche Gewalt und Femizide

Die Geschichte von Albas Phantom

Reflexionen
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.1280188195
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(11):350-352

Affiliations
a Faculté de Biologie et Médecine, Université de Lausanne
b Institut et Haute Ecole de la Santé La Source, Fondation La Source

Text: Eva Meier
Illustration: Natalia Gonard

Publiziert am 01.11.2023

Dies ist eine illustrierte literarische Kreation von zwei Studentinnen aus Lausanne, die eine im dritten Jahr Medizin, die andere im zweiten Jahr Krankenpflege, die als Abschlussarbeit eines interprofessionellen Wahlfachs vorgestellt wurde, in dem die verschiedenen Rollen einer Pflegekraft mithilfe künstlerischer Ausdrucksformen (Literatur, Zeichnen, Musik, Theater, Film) erforscht werden.
Heute ist Alba 41 Jahre alt, aber das ist ihr egal. Es ist ihr nicht mehr wichtig. Wie üblich kommt Alba an, streift die Schuhe auf der Fussmatte ab, dreht den Schlüssel um, öffnet die Tür und schaltet das Licht ein, das auf einmal alle sichtbar macht:
Ihre Freunde, ihre Frau und ihre Kinder sind im Wohnzimmer versammelt, um ihren Geburtstag zu feiern. Sie lächelt überrascht und auch ein wenig verärgert, aber sie zeigt es nicht. Die Absicht ist wirklich liebenswert. Aber sie ist an diesem Abend so müde, dass sie, nachdem sie gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat, gegen 22 Uhr ins Bett geht.
Die 41. Kerze auszublasen, bedeutet Alba nicht mehr viel. Aufgrund ihres Berufs als Allgemeinmedizinerin auf dem Land, den sie seit zehn Jahren ausübt, ist ihr klar, dass sich ihr Alter nicht mehr in Zahlen ausdrücken lässt. Auf ihren Schultern lastet das Gewicht von Hunderten von Existenzen, Tausenden von Geschichten und Millionen von Entscheidungen.
Und dieses Gewicht gibt ihr manchmal das Gefühl, viel älter als 41 Jahre zu sein. Es schlägt sich in ihren frühen Falten nieder, in ihrem Atem, der manchmal kürzer wird, in ihren weissen Strähnen. Aber es verleiht ihr auch Weisheit und Reichtum und sie fühlt sich darum priviligiert.
Doch zwischen all den Freuden und Leiden, den Zufällen, Wundern und Verurteilungen, dem Alltäglichen und dem Aussergewöhnlichen gibt es eine Geschichte, die sie verfolgt. Diese Geschichte ist vor nicht allzu langer Zeit passiert. Sie weiss es aber nicht mehr genau. War es vor vier Tagen, zehn Wochen, Monaten? Sie weiss es nicht mehr, sie fühlt sich in Zweifel und Traurigkeit verloren, wie in einem tiefen Nebel.
Sie erinnert sich allerdings noch gut an diesen Tag. Sie ging zu Fuss in ihre Praxis. Schon von Weitem bemerkte sie die Schlagzeile von 24 heures: «41. Femizid in Neuveville». Normalerweise interessiert sie sich nicht für Femizide. Natürlich berühren sie sie, natürlich sind sie traurig, natürlich sollten sie nicht passieren. Aber es gibt alles auf der Welt. Sie kann nicht viel dagegen tun und schliesslich kommt es wohl auch nicht so häufig vor. Trotzdem kauft sie aus irgendeinem Grund eine Ausgabe der Zeitung. Und auf Seite drei, neben der Überschrift, da sieht sie es: das Foto ihrer Patientin. Mit ihren roten Locken, den azurblauen Augen und dem sanften Lächeln war Frau M. 40 Jahre alt, genau wie sie an diesem Tag.
Fünf Jahre lang war Frau M. mit sanfter, ängstlicher Diskretion in ihre Praxis gekommen. Alba mochte sie. Sie empfand grosses Mitgefühl für diese Frau, die zur gleichen Zeit wie sie geboren wurde, ebenfalls Mutter von zwei Kindern wie sie es war und zudem die Frau eines Arztes. Sie war Professorin für Quantenphysik an der Universität von Neuchâtel. Alba spürte, dass ihr Leben kompliziert war, aber aus Diskretion hatte sie ihr nur selten Fragen gestellt, die über die Standardanamnese hinausgingen. Sie schätzte auch ihren Mann, Herrn M., einen 38-jährigen, hervorragenden Kinderarzt, der auch Medizinprofessor war. Er unterhielt sich immer sehr interessant mit ihr und fragte sie immer nach ihrem Befinden, wenn er sie in der Sprechstunde besuchte. Sie vermutete, dass er ein Alkoholproblem verbarg, denn er hatte hie und da ein paar Worte fallen lassen, aber nichts Nennenswertes. «Abends komme ich nach Hause und ich muss zugeben, dass ich manchmal ein kleines Glas Whisky trinke. Das tut gut! Wir üben diesen Beruf mit Leidenschaft aus, aber er ist so anstrengend, nicht wahr, Frau Doktor?», sagte er mit wissendem Blick. «Meine reizende Frau mag es nicht, wenn ich trinke. Aber wir lieben uns und verzeihen uns danach immer.»
Kurz gesagt, ein Paar mit Problemen, das aber anscheinend in der Lage war, sie zu bewältigen. Alba hätte nie gedacht, dass er in der Lage sei, sie zu töten. Niemals. Ein so angenehmer, freundlicher Mann! Seine Frau töten? Völlig absurd! Aber es stand doch in dem Artikel. Schwarz auf weiss. Und die NZZ ist nicht irgendeine Zeitung, sondern eine, die nur Nachrichten veröffentlicht, derer sie sich sicher ist. «Frau M. ist durch die Schläge ihres Mannes gestorben», stand in dem Artikel. Innere Blutungen, er hatte ihr einen Stuhl in den Magen gestossen und einen Schlag mit einem Topf versetzt.
Er hatte nicht den Notruf gewählt und sich nach der Einnahme einer Packung Paracetamol, mit Alkohol volllaufen lassen, bis er ins Koma fiel. Die Kinder hatten sie am nächsten Morgen gefunden. Die Mutter kalt, blau und wahrscheinlich mit Schlagverletzungen. Der Vater bewusstlos. Sie hatten den Notarzt gerufen. Jetzt lag sie in der Leichenhalle. Und er auf der Intensivstation.
Aber Alba glaubte es in dem Moment nicht. Es erschien ihr viel zu absurd. Sie ging in ihre Praxis und empfing die ersten Patienten. Auch nach mehreren Konsultationen liess sie das Bild von Frau M. nicht mehr los. Sie nahm die Versicherungskarte eines Patienten und sah wieder, wie Frau M. ihr die Karte reichte. Sie auskultierte eine Patientin und plötzlich hatte diese ergraute Dame die roten Locken von Frau M. Sie untersuchte den Knöchel eines jungen Patienten, er hatte ihre blauen Flecken. Wenn sie jetzt daran zurückdachte, war deren blaue Färbung auch schon auf ihrer weissen Haut, ihren Rippen, ihren kantigen Knien und ihren Schultern sichtbar gewesen.
Jedes Mal hatte Frau M. sie mit sanfter Stimme gerechtfertigt: Sie habe sich gestossen, sei mit dem Fahrrad gestürzt, habe sich am Wasserkocher verbrannt. «Sehen Sie, Frau Doktor, ich bin wirklich ungeschickt!» Zum Glück war ihr Mann da, um sie zu behandeln. Sie liebte ihren Mann sehr.
«Wissen Sie, Frau Doktor, er ist ein fantastischer und grosszügiger Ehemann. Natürlich trinkt er manchmal ein bisschen zu viel, aber er ist so engagiert in seiner Arbeit! Das ist seine Leidenschaft! Er muss einfach einmal Dampf ablassen, der Arme. Und wenn er sich manchmal aufregt, ist das nie schlimm. Er ist immer für mich da.» Alba hatte jede ihrer Ausreden und Entschuldigungen geglaubt. Bei einem Mann wie Herrn M. hätte sie sich nie vorstellen können, dass er zuschlägt. Jedes Anzeichen hatte Alba ignoriert. Aus Gutgläubigkeit, aber auch aus Bequemlichkeit. Sie hatte es nicht gewagt, die Integrität eines solchen Mannes infrage zu stellen. Als Frau M. ihr sagte, dass er sich ein wenig aufregte, hatte sie darum befürchtet, zu sehr in ihre Privatsphäre einzudringen, und das Thema gewechselt. «Wie lange dauert die Blasenentzündung schon, Frau M.?» Ganz abrupt. Alba erinnerte sich daran. «Ein gravierender Fehler», hätten ihr einige ihrer Dozenten gesagt. Sie hatte gespürt, dass sie auf unsicheres Terrain kam, und anstatt das kleine Fenster, das Frau M. geöffnet hatte, zu nützen und sie über die Wutausbrüche ihres Mannes zu befragen, war sie zur Anamnese zurückgekehrt. So viel bequemer. So feige!
Und plötzlich, um 11 Uhr, erinnerte sie sich, ihre Patientin eine Woche, bevor ihr Foto in der Zeitung erschien, gesehen zu haben. Sie war gekommen, um ein Rezept zu verlängern. Am Ende des Tages, am Ende der Woche. Alba war erschöpft, sie hatte 40 Minuten Verspätung und dachte sich: «Oh, das ist gut, eine Rezeptverlängerung, ich erledige das in fünf Minuten und dann kann ich meine Sprechstunden etwas früher beenden.» Sie hatte Frau M. empfangen und ihr gesagt: «Tut mir leid wegen der Verspätung, ich schreibe Ihnen alles schnell auf, damit Sie nach Hause gehen können.» Frau M. sah blass, müde und abgemagert aus. Alba hatte sie gefragt, wie es ihr geht. «Ach wissen Sie, der übliche Stress. Ich kann nicht mehr schlafen.» Ihre Patientin hatte ihr fest in die Augen geblickt. Ein Blick voller Not, Müdigkeit und Verzweiflung.
Sie hatte Alba eindringlich in die Augen geblickt, als wollte sie sich an sie klammern und sie bitten, sie aus dem Tumult ihres Lebens herauszuholen.
Ihre Augen erzählten mit unglaublicher Kraft von der Gewalt der Worte, der Grausamkeit der Drohungen, der unmöglichen Liebe, der vergifteten Liebe, der Angst vor dem Tod. Der Liebe zu ihren Kindern, der Unmöglichkeit, sie zu schützen. Der Unmöglichkeit wegzugehen. Der Not, der Verzweiflung. Dem Leben ohne Ausweg. Der Verurteilung. Der Unmöglichkeit, das Unfassbare auszusprechen, das unausweichliche Urteil zu verkünden.
Alba hatte all das gesehen und ihre Not gespürt. Sie hatte ihre Verzweiflung gesehen, das Bedürfnis zu reden. Aber sie war müde und gestresst von ihrem Arbeitstag und hatte keine Lust mehr, eine vertrauliche Geschichte zu hören.
Und zum zweiten Mal hatte Alba sich geweigert, das Unaussprechliche zu hören. Sie hatte sich geweigert, nach dem Unfassbaren zu fragen. Alba hatte reflexartig geantwortet, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein:
«Ja, es gibt solche Phasen. Ich bin sicher, das geht vorbei, nur Mut!» Und der Blick von Frau M. hatte sich getrübt.
Mit einem so banalen Satz war ihr Urteil gefallen. Der ganze Mut, den sie gebraucht hatte, um zu dieser Konsultation zu kommen, war durch diese ungeschickte Antwort weggeblasen worden. Angesichts der Schutzwand, die Alba sich errichtet hat, um sich selbst zu schützen, hat sie sich verschlossen.
«Ja, Sie haben wohl recht. Danke, Frau Doktor, ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.» Sie war aufgestanden, gebunden an ein Schicksal, das ihr nun unausweichlich erschien. Sie hatte gelächelt, betrübt, gezwungen, automatisch. Und sie war gegangen und hatte die Last ihres Schweigens, der unsäglichen mütterlichen Not und ihrer Traurigkeit, dass sie ihren beiden Angebeteten bald nicht mehr ihre Liebe geben konnte, auf ihren Schultern getragen. Und eine Woche später war sie tot.
Jetzt lassen Alba ihre verzweifelten, azurblauen Augen nicht mehr los. Ihr ist klar, dass sie es wusste. Und zwar schon lange. Sie hätte die Frage so oft stellen können! «Schlägt Sie Ihr Mann?» Vier Worte. Das ist so wenig. Eine Frage. Dieser eine Satz kam nicht über ihre Lippen, aus Angst vor der Antwort. Ihre Lippen waren starr vor Angst, zu sehen, was niemand sehen will, zu hören, was niemand hören will. Diese Frage hätte sie retten können. «Schlägt Sie Ihr Mann?» So einfach, so dumm. Frau M. hätte sie an diesem letzten Tag gerne beantwortet. Ihre Augen hatten Alba zugerufen: «Los, frag mich! Ich weiss, dass du es weisst oder ahnst, ich weiss, dass du seit fünf Jahren mein Leiden siehst. Ich weiss, dass du mich aus Angst nicht gefragt hast, ich verstehe. Aber dieses Mal ist es das letzte Mal. Ich habe ihm gesagt, dass ich weggehen will, und jetzt will er meinen Tod. Rette mich! Frag mich! Verdammt, lass deine Lippen diesen Satz aussprechen! Lass sie die unaussprechliche Frage stellen, lass sie diese vier unmöglichen Worte sagen, die mich vor ihm retten können!»
Und Alba hatte nichts gesagt. Heute weiss sie, dass laut Statistik jede zehnte Frau eine misshandelte Frau ist. Dass sie oft mehr gesundheitliche Probleme haben als andere. Dass sie häufiger in die ärztliche Sprechstunde kommen. Dass die meisten von ihnen hoffen, dass ihre Ärztin oder ihr Arzt sie danach fragt. Und dass statistisch gesehen in den letzten zehn Jahren jeden Tag drei Frau M.’s zu ihr in die Sprechstunde kamen. Von diesen Frauen hat Alba nur wenige kennengelernt, alle anderen sind stumm und unsichtbar geblieben. Zehn Jahre sind 3'650 Tage, davon 1'980 Arbeitstage in der Praxis. Daher gibt es in 10 Jahren 5'940 Konsultationen, bei denen sie, wenn sie die Frage gestellt hätte, wahrscheinlich eine positive Antwort erhalten hätte. Da sie aber nie in dieser Realität geschult worden ist, hat sie nie gefragt. Man hatte ihr nicht gesagt, wie man das Schweigen bricht, wie man Gewalt hinterfragt. Und aus Unwissenheit, Angst und Zeitmangel hat sie es versäumt, ihrer Patientin die Hand zu reichen. Und Frau M. starb und hinterliess ihr ihr Schweigen.
Seit sie sich an all das erinnert, kann Alba nicht mehr sprechen. Sie nimmt die Zeit nicht mehr wahr, sie kann ihre Gefühle nicht mehr ausdrücken. Alles scheint grau und still. Sinnlos. Wie die Stummheit ihrer Lippen, die das Unaussprechliche nicht artikulieren konnten. Wie das Schweigen von Frau M., die ein letztes Mal in einer sanften, vor Angst eisigen Eleganz durch die Tür der Praxis gegangen ist. Wie das Schweigen des Ehemanns, der in ein mörderisches Koma gefallen ist.
Alba hat gerade ihre 41 Kerzen ausgeblasen, aber das hat nichts mehr zu bedeuten. Das absurde Gewicht der Gewalt erdrückt sie. Die Konfrontation mit ihrer Hilflosigkeit damit liess sie mit einem Schlag altern. Und in diesen schuldhaften Erinnerungen, in all den versteckten Hinweisen auf die Notlage von Frau M. ertrinkt Alba. Sie versinkt in der Unmöglichkeit, das Ruder herumzureissen, und bereut ihre Skrupel, die sie daran gehindert haben, ihre Rolle als Ärztin zu erfüllen. Nur die Schuldgefühle bleiben, schneidend und unerbittlich. Alba ist zwar 41 Jahre alt, aber nichts hat mehr Sinn. Sie verschwindet in der Stille ihres eigenen Leidens.
Wir haben beschlossen, Alba an diesem Punkt ihrer Geschichte zu verlassen und Ihnen zu erzählen, was sie noch nicht weiss. Die Alba, die wir zurücklassen, hat keine Worte mehr. Sie wurden von ihrem Schmerz ausgelöscht. Für sie besteht die ärztliche Rolle gerade darin, die intimsten und schwierigsten Fragen zu stellen. Eine Gesundheitsfachperson muss es wagen, ihre Patientinnen und Patienten zu verstehen, ihre psychosoziale Situation zu begreifen und zu erkennen,, wer Hilfe braucht. Alba fühlt sich zutiefst schuldig und verantwortlich, weil sie in ihren Skrupeln gefangen war und aus Selbstschutz versuchte, die Distanz zu wahren, und deshalb Frau M. nicht sehen konnte. Doch mit der Zeit und Unterstützung lernt sie, all dies zu überwinden und zu akzeptieren, dass sie nicht für das Leben anderer verantwortlich ist, dass sie nicht unfehlbar ist. Sie wird daraus eine Stärke machen und wieder lernen zu sprechen. Zu atmen. Sich mit ihren Lieben über ihren Geburtstag zu freuen. Und in ein paar Jahren, sie weiss es noch nicht, wird auch sie Universitätsprofessorin sein. Sie wird die richtigen Worte finden, um den Studierenden häusliche Gewalt und Femizid zu erklären, damit sie nie ihren Fehler begehen und so wenig wie möglich schweigen. Das Schweigen von Frau M. wird sich in ein mächtiges und gewichtiges Wort verwandelt haben.
Und Alba wird für sie sprechen.

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