Projekte des Nationalen Forschungsprogramms 74 «Smarter Health Care»

Der Aufbau einer neuen Generation von Führungskräften für das Schweizer Gesundheitswesen

Forschung
Ausgabe
2023/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.1253209821
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(10):296-298

Affiliations
a Institute for Biomedical Ethics, University of Basel, Basel, Switzerland
b Department of Health Care Policy, Harvard Medical School, Boston, Massachusetts, USA

c Epidemiology, Biostatistics and Prevention Institute (EBPI), University of Zurich (UZH), Zurich, Switzerland

Publiziert am 04.10.2023

Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes 74 wurde ein Leadership-Programm für talentierte Nachwuchsforschende entwickelt («Emerging Health Care Leaders Program»), dessen Ziel die Entwicklung einer gut trainierten und integrierten Gemeinschaft von zukünftigen Führungskräften im Gesundheitswesen war. In diesem Artikel werden die Aktivitäten und die Resultate dieses Programmes beschrieben und der Mehrwert von solchen Initiativen für den Schweizer Gesundheitsbereich aufgezeigt.

1. Hintergrund

Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) organisiert regelmässig nationale Forschungsprogramme (NFP) zur Förderung interdisziplinärer und lösungsorientierter Forschung. Das NFP 74 hatte drei zentrale Ziele:
  • wissenschaftliche Evidenz für eine bessere Behandlung von Menschen mit chronischen Krankheiten zu generieren;
  • die Gesundheitsdatenlage der Schweiz zu verbessern;
  • den Aufbau einer Forschungscommunity in der Versorgungsforschung zu fördern [1].
Das dritte Ziel war besonders wichtig, da eine gut strukturierte und koordinierte Community in der Versorgungsforschung hilfreich ist. Nicht nur, um neue Projekte in der Zukunft zu formulieren, sondern auch zu sichern, dass die Ergebnisse der gegenwärtigen Forschung sich auf die Klinik und auf die Politik auswirken. Dies dauert länger als ein NFP und benötigt Fähigkeiten, die breiter sind als die rein wissenschaftlichen (z.B. Kommunikations-Skills, Verhandlungsfertigkeiten). In der Tat ist in der Literatur schon gezeigt worden, dass Leadership Training im Gesundheitsbereich sehr wichtig ist [2]. Auch die COVID-19-Pandemie hat klargemacht, wie relevant die Förderung von neuen Führungskräften im Gesundheitswesen ist [3]. Gleichzeitig hat eine jüngste Recherche zur Interaktion zwischen wissenschaftlicher Forschung und Politik in der Schweiz darauf hingewiesen, dass Forschende den Dialog mit «Policymakers» verbessern können, und dass dies die Entwicklung von Vertrauen und gegenseitigem Verständnis voraussetzt [4].
Aus diesen Gründen wurde das Emerging-Health-Care-Leaders-Programm (EHCL) im Rahmen des NFP 74 lanciert. EHCL ist «ein innovatives Förder-Programm für Nachwuchsforschende (Doktorierende, Postdocs und Assistenzärztinnen und Assistenzärzte)». Sein Ziel ist es, «das Rüstzeug für zukünftige Führungspersonen im schweizerischen Gesundheitswesen» zu vermitteln [5]. In diesem kurzen Artikel beschreiben wir die methodologische Herangehensweise des Programmes und die wichtigsten Resultate der zwei Hauptachsen des EHCLs: Leadership Training und Community Building.

2. Methodologische Herangehensweise

Das EHCL wurde für alle Nachwuchsforschenden, die im Rahmen des NFP 74 tätig waren, konzipiert. Die Teilnahme war freiwillig und kostenlos, da das Programm die Spesen für die Teilnahmen an den verschiedenen Aktivitäten (siehe unten) erstattete. Insgesamt sind 57 Nachwuchsforschende aus allen Sprachregionen der Schweiz rekrutiert worden. Die Mehrheit davon waren Doktorierende (65% Doktorierende, 14% Postdocs, 21% andere Forschende – z.B. wissenschaftliche Mitarbeitende). Die Mehrheit der Teilnehmenden waren Frauen (72%). Ein breites Spektrum aus verschiedenen wissenschaftlichen Hintergründen war vertreten (Physik, Molekularwissenschaften, Biologie, Medizin, klinische Psychologie, Pflege, Ökonomie, Jurisprudenz, Pädagogik, Politikwissenschaften).
Das Programm bestand aus Veranstaltungsreihen, die sich auf fünf Themenfelder fokussierten:
  • Self-Competence/Leadership;
  • Professional Competences;
  • Soft Skills;
  • Knowledge-Transfer-Skills;
  • Social Competences im Arbeitsumfeld.
Was das Format angeht, hatten die Veranstaltungen verschiedene Längen und pädagogische Methoden, aber sie teilten die folgenden Eigenschaften:
Erstens folgten sie den Prinzipien der Erwachsenenbildung und zweitens enthielten sie immer Teile, in denen die Teilnehmenden miteinander interagieren und ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln konnten. Während am Anfang des EHCL die Organisation, das Thema, und die Gestaltung der Veranstaltungen meistens von den EHCL-Koordinatoren in Zusammenarbeit mit dem NFP-74-Steering-Committee bestimmt wurden, wurden die Teilnehmenden des EHCLs mit der Zeit zunehmend involviert – z.B. dadurch, dass sie die Themen auswählten, die Gastredner bzw. -Gastrednerinnen einluden, und die Aktivitäten organisierten. Darüber hinaus wurde jedes Jahr eine zweitägige «Retraite» in den verschiedenen Regionen der Schweiz durchgeführt, wo EHCL-Teilnehmende ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln und die Zusammenarbeit untereinander vertiefen konnten. Letztlich wurde Ad-hoc-Mentorship angeboten, ein Element, das als entscheidend für die Entwicklung von Leadership Skills gehalten wird [6].

3. Resultate: Leadership Training und Community Building

Das EHCL hat konkret dazu geführt, dass sich eine neue Kohorte von Nachwuchsforschenden als Führungskräfte für das Schweizer Gesundheitswesen etabliert hat. Dies wurde dadurch erreicht, dass die Teilnehmenden ein Set von anerkannten Leadership-Skills mittels mehrjährigem Training entwickelt haben, und dass sie eine etablierte Community geschafft haben, die nicht nur zur Erarbeitung neuer Forschungsprojekte in der Gesundheitsversorgung, sondern auch zum Dialog mit der Politik und Kollaboration mit Stakeholdern aus der Praxis fähig ist.
Im Rahmen des Leadership Trainings führte das EHCL-Programm in den Jahren 2018 bis 2022 mehr als 40 Workshops durch. Diese Workshops behandelten viele verschiedene Themen, zum Beispiel Leadership vs. Management, Teambildung, erfolgreiches Verhandeln, Konfliktmanagement, Personal Branding, von Evidenz zur Policy, Umgang mit der Politik auf nationaler und kantonaler Ebene, Kommunikation mit Politikerinnen und Politikern, politisches Lobbying, Präsentation und Rhetorik, Schreiben für ein akademisches und für ein Laienpublikum, Grant Proposal Writing, Umgang mit Medien, Einbezug sozialer Medien in die Gesundheitskommunikation, Verhalten bei Videokonferenzen, angewandtes Projektmanagement, Budgetieren oder Netzwerkbildung. Jeder Workshop wurde durch ein kurzes soziales Ereignis abgerundet, damit auch das Community Building (siehe unten) gefördert werden konnte.
Die Liste aller Aktivitäten und eine Evaluation der Auswirkungen auf die Teilnehmenden wurde in einem Synthesereport des NFP 74 publiziert [7]. Die regelmässige Teilnahme am Leadership Training wurde in einem Zertifikat bestätigt, das vom SNF und vom NFP 74 unterschrieben wurde. Ein weiterer Beweis des Effekts des Leadership Trainings ist auch die Tatsache, dass EHCL-Teilnehmende vom NFP-74-Steering Committee ausgewählt wurden, um beim Schreiben von thematischen Berichten für das gesamte NFP 74 mitzuwirken.
Manche der bemerkenswertesten Resultate des EHCL sind im Bereich des Community Building entstanden. Das regelmässige Engagement der «EHCLScholars» in Workshops und sozialen Aktivitäten hat zu der Entwicklung von steigendem Vertrauen geführt: EHCL-Teilnehmende haben sich zuerst kennengelernt und ihre Expertisen ausgetauscht; danach haben sie angefangen, gemeinsam Ideen zu entwickeln und schliesslich haben sie Projekte miteinander durchgeführt. Beispielsweise haben verschiedene EHCL-Teilnehmende an einem Projekt mitgewirkt, das sich mit der Auswirkung von COVID-19 auf die medizinische Grundversorgung befasst hat [8], und andere haben zusammen an einer Publikation gearbeitet, in der die zukünftigen Trends im Schweizer Gesundheitsversorgung identifiziert und analysiert wurden [9 ]. Im obengenannten Bericht [7] ist im Detail beschrieben worden, wie die EHCL-Teilnehmenden ihr professionelles Netzwerk entwickelt haben, wie sich die formellen und informellen Verbindungen mit anderen Teilnehmenden vertieft haben, und wie ein Gemeinschaftsgefühl entstanden ist, das nachhaltig anhält [10]. Im selben Bericht ist auch erwähnt, wie diese Gemeinschaft sich für einen Dialog mit der Politik und der Praxis engagiert hat, z.B. dadurch, dass verschiede EHCL-Teilnehmende Knowledge-Transfer-Aktivitäten zusammen entwickelt haben.

4. Schlussfolgerungen und Zukunftsperspektive

Die EHCL-Initiative hat sich als ein innovatives und zukunftsorientiertes Förderprogramm für Nachwuchsforschende erwiesen. Diese wurden in einem Trainingsprogramm erfolgreich mit Leadership-Fertigkeiten ausgestattet. Darüber hinaus wurde eine integrierte und vertrauenswürdige Community von Jungforschenden im Gesundheitswesen geschaffen, die gemeinsam auftreten und sich am zukünftig wichtiger werdenden Dialog zwischen Praxis und Politik beteiligen kann.
Es existieren nur wenige solche Initiativen weltweit: In Kanada sind die Emerging Health Leaders eine «Grassroots-Initiative», die ein Netzwerk von Gesundheitsfachpersonen erschaffen haben, die sich im Bereich Leadership weiterausbilden wollen [11]; in Australien bringt die «Academy for Emerging Leaders in Patient Safety» jährlich Fachleute zusammen, die ihre Leadership Skills entwickeln möchten – vor allem in Zusammenhang mit Patientensicherheit [12].
Jede dieser Initiativen ist einzigartig, aber sie teilen alle die Idee, dass die Weiterbildung einer zusammengehörigen und gut trainierten professionellen Community im Gesundheitswesen wesentlich für das zukünftige Gesundheitswesen ist. Das EHCL-Programm zeichnet sich durch seine regelmässig stattfindenden Skill-Trainings aus und durch seine zahlreichen begleitenden Massnahmen (z.B soziale Events), die den Aufbau einer dynamischen und robusten Gemeinschaft von Jungforschenden erlaubt hat.
Das EHCL-Programm teilt aber auch einige Herausforderungen mit den obengenannten vergleichbaren ausländischen Initiativen. So etwa die Schwierigkeit bezüglich der Kriterien, mit dem die Teilnehmenden selektioniert werden, oder die Schwierigkeiten in der Evaluation der Auswirkung des Programmes auf die Karriere der Einzelmitglieder und der Community insgesamt. Im Rahmen des EHCL haben schon Diskussionen begonnen mit Bezug auf beide Herausforderungen. So wurde z.B. darüber debattiert, inwiefern auch Teilnehmende aus der Praxis oder aus der Politik in die «Community» integriert werden könnten, oder wie die Langzeiteinwirkung eines solchen Programmes am besten gemessen werden kann.
Trotz dieser Herausforderungen sind Initiativen wie das EHCL bahnbrechend, auch um den dringenden und international anerkannten Bedarf an Reformen in der Ausbildung von Nachwuchsforschenden zu decken [13]. Für die Zukunft ist es besonders wichtig, dass die Erfahrungen und das Know-How der EHCL-Teilnehmenden gewinnbringend genützt werden können und deren Kompetenzen mithelfen, die nötige Zusammenarbeit zwischen Forschung und Politik und Praxis in der Schweiz zu gewährleisten. Ausserdem sollten Folgeinitiativen unterstützt werden, die auf den Erfahrungen des EHCL-Programmes aufbauen und einem weiteren Kreis von Jungforschenden zu Gute kommen können.

5. Fazit

Das im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes 74 durchgeführte Nachwuchsförderungsprogramm «EHCL» hat aufgezeigt, wie Forscherinnen und Forscher nicht-akademische Fertigkeiten entwickeln können, welche sie befähigen, bei der Gestaltung des zukünftigen Gesundheitswesens aktiv mitzuwirken. Aus dieser Erfahrung kann die Praxis lernen, wie Leadership-Kompetenzen vermittelt werden, und wie eine eng verbundene Community von Fachkräften kreiert werden kann, die ein Gemeinschaftsgefühl hat und die im Dialog mit anderen Anspruchsgruppen gemeinsam Lösungen für die Probleme des Gesundheitswesens erarbeiten kann.

Reihe: Projekte des Nationalen Forschungsprogramms NFP 74 «Smarter Health Care»

Der vorliegende Text beschreibt das Weiterbildungsangebot «Emerging Health Care Leaders» (EHCL),

ein innovatives Programm für Nachwuchsforschende (Doktorierende, Postdocs und Assistenzärzte), die im Rahmen des NFP 74 tätig sind. Ziel dieses Programms des Schweizer Nationalfonds mit 34 geförderten Projekten ist es, wissenschaftliche Grundlagen für eine gute, nachhaltig gesicherte und «smarte» Gesundheitsversorgung in der Schweiz bereitzustellen.

Informationen: nfp74.ch

Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Andrea Martani
Institute of Biomedical Ethics
University of Basel
Bernoullistrasse 28
CH-4056 Basel
andrea.martani[at]unibas.ch
1 Puhan M. Richten wir den Fokus auf chronische Krankheiten – gerade heute. Prim Hosp Care. 2020 Sep;1: https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10271.; Epub ahead of print.
2 Till A, McKimm J, Swanwick T. The Importance of Leadership Development in Medical Curricula: A UK Perspective (Stars are Aligning). J Healthc Leadersh. 2020 Mar;12:19–25. https://doi.org/10.2147/JHL.S210326 PMID:32214861
3 Nittas V, Buitrago-Garcia D, Chetty-Mhlanga S, Grimm PY, Guerra G, Patel C, et al. Future public health governance: investing in young professionals. Int J Public Health. 2020 Dec;65(9):1521–2. https://doi.org/10.1007/s00038-020-01521-0 PMID:33145659
4 Hochstrasser J. Editorial: Im Politdschungel braucht es Beharrlichkeit. Horizonte - Das Schweizer Forschungsmagazin, 2022, https://www.horizonte-magazin.ch/2022/12/01/im-politdschungel-braucht-es-beharrlichkeit/ (2022, accessed 2 March 2023).
5 National Research Programme 74. Emerging Health Care Leaders, http://www.nfp74.ch/en/the-nrp/emerging-health-care-leaders
6 Batara N, Woolgar T. The mentorship imperative for health leadership. Healthc Manage Forum. 2017 May;30(3):155–8. https://doi.org/10.1177/0840470417692335 PMID:28929857
7 Synthesis Working Paper: «Building a strong research community (EHCL+)». Bern: Swiss National Science Foundation, https://www.nfp74.ch/api/download/Imh0dHBzOi8vc3RvcmFnZS5nb29nbGVhcGlzLmNvbS9zbmYtbWVkaWEvbmZwNzQtcHJvZHVjdGlvbl9abHpTeGQ1ZGxlUGdOMlNHL2ZuRTJTUHRQOE5sWEY2S0wi (June 2022, accessed 22 February 2023).
8 Deml MJ, Minnema J, Dubois J, Senn O, Streit S, Rachamin Y, et al. The impact of the COVID-19 pandemic on the continuity of care for at-risk patients in Swiss primary care settings: A mixed-methods study. Soc Sci Med. 2022 Apr;298:114858. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2022.114858 PMID:35247784
9 Deml MJ, Jungo KT, Maessen M, Martani A, Ulyte A. Megatrends in Healthcare: Review for the Swiss National Science Foundation’s National Research Programme 74 (NRP74) “Smarter Health Care”. Public Health Rev. 2022 Mar;43:1604434. https://doi.org/10.3389/phrs.2022.1604434 PMID:35528712
10 National Research Programme 74. Competences for future leaders in the health sector, https://www.nfp74.ch/en/IT8zJ4nm2rw4TejF/news/221004-news-nfp74-competences-for-future-leaders-in-the-health-sector (2022, accessed 22 February 2023).
11. Gruenwoldt E, Hagen Lyster A. The Emerging Health Leaders network experience: reflections and lessons learned from a grassroots movement. Healthc Manage Forum. 2017 May;30(3):133–7. https://doi.org/10.1177/0840470416686081 PMID:28929850
12 Oates K, Burgess A, Dalton S, Sammut J, Mayer D. The Academy for Emerging Leaders in Patient Safety: developing a community of practice. Clin Teach. 2020 Oct;17(5):508-14. https://doi.org/10.1111/tct.13127 PMID:31863528
13 PhD training is no longer fit for purpose - it needs reform now. Nature. 2023 Jan;613(7944):414–414. https://doi.org/10.1038/d41586-023-00084-3 PMID:36653573

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