Endometriose: Gesellschaftliche Determinanten, die zu einer späten Diagnose führen
Es betrifft 10–15% der Frauen

Endometriose: Gesellschaftliche Determinanten, die zu einer späten Diagnose führen

Lehre
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.1157102498
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(11):332-333

Affiliations
Medizin-Studierende im 3. Bachelor-Jahr in Lausanne

Publiziert am 01.11.2023

Eintauchen in eine Gemeinschaft («Immersion communautaire») – Medizinstudierende in der Feldforschung

Vier Wochen lang betreiben Medizinstudierende im dritten Jahr an der Universität Lausanne Feldforschung zu einer Frage ihrer Wahl aus vier allgemeinen Themenbereichen (Klima, Familie, Risiken und Stigmatisierung im Jahr 2022). Ziel des Moduls ist, den angehenden Ärztinnen und Ärzten die nicht biomedizinischen Bestimmungsfaktoren der Gesundheit, der Krankheit und der medizinischen Praxis näherzubringen: Lebensstile, psychosoziale und kulturelle Faktoren, Umwelt, politische Entscheidungen, wirtschaftliche Einschränkungen, ethische Fragen usw. In Gruppen von vier oder fünf Personen beginnen die Studierenden mit der Definition einer originellen Forschungsfrage und der Durchsuchung der wissenschaftlichen Literatur dazu. Während ihrer Forschungsarbeit kommen sie in Kontakt mit dem Netzwerk von Gemeinschaftsakteuren, Fachpersonen oder Patientenorganisationen, deren Rollen und jeweiligen Einfluss sie untersuchen. Jede Gruppe wird von einer Tutorin oder einem Tutor betreut, der an der Biologischen und Medizinischen Fakultät der Universität Lausanne, der Haute École de la Santé La Source in Lausanne oder einer anderen Bildungsinstitution lehrt. Am Ende des Moduls präsentieren die Studierenden die wichtigsten Ergebnisse ihrer Arbeiten an einem zweitägigen Kongress.
Seit mehr als zehn Jahren haben mehrere Studierendengruppen die Möglichkeit, ihre Arbeit im Rahmen eines interprofessionellen Immersionsprojekts in der Gesellschaft durchzuführen, das in Zusammenarbeit mit der Haute École de la Santé La Source veranstaltet wird. Die Gruppe führt die Feldforschung nach dem Immersionsprinzip vor Ort in einer Schweizer Region durch (Aufenthalt von 7 bis 10 Tagen) und wird dabei von ihren Tutorinnen und Tutoren pädagogisch begleitet. Aus den Arbeiten werden vier zur Veröffentlichung in Primary and Hospital Care ausgewählt.
Eintauchen in eine Gemeinschaft der Biologischen und Medizinischen Fakultät der UNIL unter der Leitung von Prof. Patrick Bodenmann (Verantwortlicher), Dr. Francis Vu (Koordinator), Meltem Bukulmez und Mélanie Jordan (Sekretariat), Prof. Thierry Buclin, Dr. Aude Fauvel, Dr. Vé­ronique Grazioli, Dr. Nicole Jaunin Stalder, Dr. Yolanda Müller, Sophie Paroz, Dr. Béatrice Schaad und Prof. Madeleine Baumann (HEdS La Source).

Einleitung

Endometriose ist eine chronische Erkrankung, die 10 bis 15 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter betrifft [1]. Sie ist durch Ablagerungen von Endometriumgewebe ausserhalb der Gebärmutterhöhle gekennzeichnet. Die chronischen Schmerzen, die damit einhergehen, wirken sich auf die soziale, berufliche, emotionale und wirtschaftliche Sphäre der Frau aus. Endometriose ist zudem die häufigste Ursache für Unfruchtbarkeit in den westlichen Ländern: 40% der betroffenen Frauen sind unfruchtbar [2].
Ungeachtet der offensichtlichen Häufigkeit dieser Krankheit vergehen zwischen dem Auftreten von Symptomen und der Diagnosestellung durchschnittlich sieben Jahre [3]. Wir haben uns daher zunächst mit dieser Diagnoseverzögerung befasst, indem wir in der Fachliteratur recherchiert haben. Es liegen zwar Studien über die Ursachen, die Folgen und die Behandlung der Krankheit vor, aber nur sehr wenige, die sich mit den Ursachen für diese verzögerte Diagnose befassen. Zu den Ursachen, die identifiziert wurden, gehören der Mangel an Ausbildung der Fachpersonen, an Forschung und an spezialisierten Zentren [4] sowie die unzureichende Nutzung von Diagnosemethoden, die weniger invasiv als die Laparoskopie sind [5]. Als soziokulturelle Faktoren werden die Tabuisierung der Menstruation, die «Normalisierung» der Schmerzen, die Unkenntnis der Krankheit sowie das fehlende Bewusstsein der Bevölkerung in nur wenigen Studien erwähnt [6]. Aus diesem Grund haben wir die Frage so präzisiert: «Welche soziokulturellen Faktoren führen zu einer späten Diagnose von Endometriose?»

Methode

Das Ziel unserer Arbeit lautet, die soziokulturellen Determinanten der verzögerten Diagnose von Endometriose anhand der Fachliteratur und durch Interviews mit beteiligten Akteuren zu identifizieren und Massnahmen vorzuschlagen, um die Diagnoseverzögerung zu verringern.
Für die Literatursuche wurden folgende Schlüsselwörter verwendet: «Endometriose» und «späte Diagnose» auf Englisch und Französisch in den Datenbanken PubMed, Lissa und CISMeF.
Wir haben eine qualitative Forschungsmethode in Form semistrukturierter Einzelinterviews angewandt. Zu diesem Zweck wurden 14 Interviews mit einer Medizinhistorikerin, einem Gesundheitsanthropologen, einem Theologen, einer sich mit Endometriose befassenden Autorin, einem Dozenten der Medizinischen Hochschule, einer Juristin als Vertreterin der Patientinnenvereinigung S-endo, einer Epidemiologin, einer Spezialistin für sexuelle Gesundheit in der Schule, einer Beraterin für sexuelle und reproduktive Gesundheit, einem Allgemeinmediziner, einer Gynäkologin, einer Physiotherapeutin, einer Fernsehjournalistin und einer Nationalrätin geführt. Ausserdem kontaktierten wir per E-Mail einen Krankenversicherer, um einige Fragen zum Thema Versicherung zu stellen.

Ergebnisse

Im Anschluss an die 14 semistrukturierten Interviews haben wir verschiedene Faktoren identifiziert, die die Diagnoseverzögerung teilweise erklären. Wir haben sie einerseits in medizinische Faktoren und Faktoren, die mit der Organisation des Gesundheitswesens zusammenhängen, sowie andererseits in soziokulturelle Faktoren unterteilt. Die Unkenntnis der Krankheit wird mehrheitlich durch die mangelnde Ausbildung der Gesundheitsfachpersonen sowie durch den Mangel an Forschung zu diesem Thema erklärt. Auch die Notwendigkeit zusätzlicher Untersuchungen zur Diagnosestellung und die Schwierigkeit, die Krankheit aufgrund der vielfältigen und unspezifischen Symptome zu diagnostizieren, wurden in den Gesprächen immer wieder genannt. Die weniger häufig genannte schlechte geografische Verteilung spezialisierter Gesundheitszentren ist ebenfalls ein mit dem Gesundheitswesen verbundener Faktor, der den Zugang zur Gesundheitsversorgung erschweren kann.
Im Zusammenhang mit unserer Forschungsfrage wurden verschiedene soziokulturelle Faktoren herausgearbeitet: die «Normalisierung» der Schmerzen während der Menstruation und/oder beim Geschlechtsverkehr durch die Patientinnen und die Fachpersonen, die alle Befragten erwähnten; Tabus (11 von 14 Befragten) wie Sexualität, Menstruation und der Körper der Frau; historisch bedingte Ursachen (7/14) wie die Untergrabung der Glaubwürdigkeit der Stimme der Frau; religiös bedingte Ursachen (6/14) wie das Leiden als Strafe für die Erbsünde; ein geschlechtsbezogener Verzerrungseffekt (6/14), der erklärt, warum Frauen im Gesundheitswesen im Vergleich zu Männern weniger gut versorgt werden und mit Unterdiagnostik konfrontiert sind. Eine Minderheit der Befragten war der Ansicht, dass Endometriose in der Schweiz von keinem oder nur einem geringen Tabu umgeben sei. Eine weitere Minderheit war der Ansicht, dass es keine sozioökonomischen Barrieren gebe, die den Zugang zu medizinischer Versorgung erschweren.
Bestimmte Bevölkerungsgruppen haben aufgrund ihrer soziokulturellen Merkmale ein höheres Risiko, dass Endometriose spät diagnostiziert wird: wirtschaftlich benachteiligte Bevölkerungsgruppen (10/14), die unter anderem wegen der hohen Franchise auf medizinische Versorgung verzichten; Personen bestimmter Religionen (6/14); Menschen mit mangelnder Gesundheitskompetenz (5/14); Migrantinnen und Migranten (5/14) sowie andere Minderheitengruppen, die weniger häufig genannt werden, wie fremdsprachige, übergewichtige, sexuell traumatisierte Personen und Frauen, die Sex mit Frauen haben.
In den Interviews haben wir gefragt, welche Massnahmen möglich wären, um die Diagnoseverzögerung zu verkürzen. Die von der Mehrheit der Befragten vorgeschlagenen Massnahmen sind: Information und Förderung von Veranstaltungen zum Thema Endometriose durch Medien, soziale Netzwerke und Konferenzen; Aufklärung der Familie; Sensibilisierung und Prävention durch Kampagnen; bessere Ausbildung aller Berufsgruppen, die mit Endometriose-Patientinnen zu tun haben können; Investition durch politische Institutionen in Forschung und Statistik; Einrichtung eines Endometriosezentrums in jedem Kanton. Andere interessante Massnahmen wurden ebenfalls genannt, z. B. die stärkere Nutzung alternativer Diagnosemethoden (etwa des Speicheltests) oder eine kostenlose Erstberatung bei Menstruationsschmerzen.

Diskussion

Die Akteure nannten sowohl medizinische als auch soziokulturelle Faktoren, die zu einer späten Diagnose von Endometriose führen können. Die beiden am häufigsten genannten soziokulturellen Faktoren waren die «Normalisierung» der Regelschmerzen und die Tabuisierung der Endometriose.
Alle von uns in der Fachliteratur ermittelten Elemente, die die Diagnoseverzögerung erklären, wurden auch in den Interviews hervorgehoben. Darüber hinaus wiesen die Befragten auf viele weitere soziokulturelle Faktoren hin, wie historische Ursachen, religiöse Ursachen und einen geschlechtsbezogenen Verzerrungseffekt. Einige dieser Faktoren haben wir in der grauen Literatur gefunden, in der wissenschaftlichen Literatur sind sie jedoch nicht enthalten.
Die Befragten nannten viele vielversprechende Ideen, um die Verzögerung bei der Diagnose von Endometriose zu verringern, diese erfordern allerdings finanzielle Mittel, die von den politischen Instanzen abhängen. So wurde beispielsweise kürzlich ein Projekt, eine Beobachtungsstelle einzurichten, um die Fälle zu erfassen und die Symptome der Endometriose zu katalogisieren, beim Bundesrat eingereicht, der es jedoch ablehnte. Leider wird die Endometriose derzeit nicht als Priorität des öffentlichen Gesundheitswesens angesehen, was ein Hindernis für die Einführung von Massnahmen darstellt. Das ist letztlich nicht erstaunlich, da einige Gesundheitsfachpersonen, die direkt mit dieser Krankheit konfrontiert sind, weder die Schwierigkeiten beim Zugang zu medizinischer Versorgung für wirtschaftlich benachteiligte Personen noch die Tabus rund um diese Krankheit erkennen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Einstellung zu Endometriose zwar zum Positiven verändert, die Fachliteratur jedoch eine Lücke im Hinblick auf die soziokulturellen Faktoren aufweist, die eine verspätete Diagnose erklären. Diese Faktoren sollten besser erforscht werden, um entsprechende Massnahmen umzusetzen und die Folgen der späten Diagnose von Endometriose zu verringern.
Das Poster zum Text ist als separater Online-Appendix verfügbar.
Der Einfachheit halber wurde das Wort «Frau» verwendet, es schliesst jedoch jeden Menschen mit einer Gebärmutter ein.
Wir danken unserem Tutor, Dr. Alexandre Ronga, den Personen, die sich uns für die Interviews zur Verfügung stellten, sowie dem Komitee des Immersionsmoduls Gemeinschaftsgesundheit, insbesondere Dr. Yolanda Müller, die uns bei der Veröffentlichung dieses Artikels unterstützt hat.
Dr. med. Alexandre Ronga
Rue du Bugnon 44
CH-1011 Lausanne
dvms.imco[at]unisante.ch
1 Hôpitaux Universitaires Genève – gynecologie - endometriose [Internet]. Genève: L'endométriose [cité 21 juin 2022]. Available from:

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