Projekt 20 des Nationalen Forschungsprogramms 74 «Smarter Health Care»

Leitfaden zur Integration spiritueller Aspekte in die multimodale Schmerztherapie

Forschung
Ausgabe
2023/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10703
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(07):201-203

Affiliations
a Professur für Spiritual Care, Universität Zürich; b Klinik Zugersee, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Triaplus AG, Oberwil-Zug; c Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Publiziert am 05.07.2023

Nicht nur in der palliativen Versorgung am Lebensende, sondern auch bei chronischen Erkrankungen spielen spirituelle und existenzielle Aspekte für viele Menschen eine wichtige Rolle. Wie aber kann die spirituelle Dimension in einem multimodalen Therapieansatz konkret integriert werden? Welche Ansätze sind hilfreich, um trotz der immer knapper werdenden zeitlichen und personellen Ressourcen bei der Behandlung den ganzen Menschen im Blick zu behalten und neben psychosozialen auch spirituelle Aspekte zu berücksichtigen?

Hintergrund

In einem patientenzentrierten Behandlungsansatz gewinnen auch spirituelle und existenzielle Aspekte immer mehr an Bedeutung [1]. Obwohl die Datenlage noch unzureichend ist, sprechen die Ergebnisse einiger Untersuchungen dafür, dass ein erhöhtes Bewusstsein für spirituelle Aspekte und deren Integration mit einem besseren Krankheitsverlauf assoziiert sind [2].
In einer Studie zur Spiritual Care bei chronischem Schmerz, die Teil des Nationalen Forschungsschwerpunkts 74 war, wurde klar, dass nicht nur viele spirituelle Ressourcen bei chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten vorhanden sind [3], sondern dass auch mehr als die Hälfte von ihnen sich wünschen, dass spirituelle Aspekte in ihrer Behandlung berücksichtigt werden [4]. Gemäss der Studie nehmen Gesundheitsfachpersonen diesen Wunsch wahr und stehen ihm grundsätzlich offen gegenüber. Dennoch sind sie – vor allem aufgrund fehlender Modelle für das Ansprechen solcher Themen, mangelnder Erfahrung in diesem Bereich und nicht zuletzt knapper zeitlicher Ressourcen – eher zurückhaltend [5].

Reihe: Projekte des Nationalen Forschungsprogramms NFP 74 «Smarter Health Care»

Als letztes Teilprojekt des vom Schweizer Nationalfonds im Rahmen des NFP 74 unterstützten Forschungsprojektes «Spiritualität und chronischer Schmerz» wurde aufbauend auf den bereits vorhandenen Forschungsergebnissen und mithilfe der zusammengetragenen Erfahrungen von über 40 Experten aus verschiedenen Gesundheitsberufen ein Leitfaden zur Integration spiritueller Aspekte in die multimodale Schmerztherapie geschaffen, der hier vorgestellt werden soll.
Dieses Projekt ist eines von insgesamt 34 geförderten Projekten des NFP 74 des Schweizer Nationalfonds. Ziel des NFP 74 ist es, wissenschaftliche Grundlagen für eine gute, nachhaltig gesicherte und «smarte» Gesundheitsversorgung in der Schweiz bereitzustellen.
Informationen: nfp74.ch
Um diese Lücke zu schliessen, wurde unter der Leitung der Professur für Spiritual Care der Universität Zürich in einem mehrstufigen Prozess der Leitfaden zur Integration spiritueller Aspekte in die multimodale Schmerztherapie (im Folgenden als «LISA-S» abgekürzt) entwickelt. Er möchte aufzeigen, wie es konkret gelingen kann, auch die spirituelle Dimension in der Behandlung zu berücksichtigen. Da es dafür nicht nur eine einzige Art und Weise geben kann, enthält er die gebündelte Erfahrung von über 40 Expertinnen und Experten aus verschiedenen Gesundheitsberufen, die mit chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten arbeiten.
Der Leitfaden richtet sich an Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachpersonen, Personen, die physio- und ergotherapeutische Tätigkeiten ausüben, und Personen, die in psychologischen Berufen und im Sozialwesen tätig sind.

Methodik

Der LISA-S ist das Resultat einer Delphi-Studie, die mit 28 Experten aus Medizin, Pflege, Physio- und Ergotherapie, Psychologie und Sozialarbeit entstanden ist. In einem mehrstufigen Prozess wurde den Experten ein Fragekatalog vorgelegt. Die Antworten wurden qualitativ analysiert und in anonymisierter Form in zwei bis drei Runden den Experten wieder zur Kommentierung vorgelegt.

Resultate

Entstanden ist ein Leitfaden in Form einer personalisierbaren Pocket-Card (Abb. 1) mit dazugehörigem Begleitheft. Letzteres enthält ausformulierte Fragen, die als Vorschläge und Inspiration zu verstehen sind, um einen eigenen Zugang zu Gesprächen mit Patientinnen und Patienten zu finden, sowie Hintergrundinformationen und Empfehlungen zur Strukturierung solcher Gespräche. Was davon für den persönlichen Gebrauch hilfreich erscheint, kann auf der Pocket-Card festgehalten und so rascher zugänglich gemacht werden.
Abbildung 1: Pocket-Card des Leitfadens.
© Professur für Spiritual Care, Universität Zürich
Der ebenfalls im Rahmen des NFP-74 Projekts validierte «Spiritual Distress and Resources Questionnaire» (SDRQ) zu spirituellen Ressourcen und Belastungen bei chronischen Schmerzen ist dem Begleitheft beigelegt. Dieser Fragebogen kann beispielsweise dazu verwendet werden, ein niederschwelliges Screening spiritueller Ressourcen und Belastungen durchzuführen oder den Wunsch der Patientinnen und Patienten nach einem Einbezug spiritueller Aspekte zu erkunden [3].
Als Vorschlag für einen strukturierten Zugang kristallisierte sich die Unterscheidung zwischen einerseits dem Gesprächseinstieg und der Exploration von spirituellen Ressourcen und Belastungen und andererseits einer gezielten Integration spiritueller Aspekte in die Behandlung heraus.
Für den Einstieg kann je nach Situation ein indirekter oder ein direkter Zugang geeignet sein. Ein indirekter Einstieg kann über generelle Ressourcen, metaphorische, bildhafte Sprache oder die Exploration des Krankheitskonzeptes der Patientin oder des Patienten gelingen, das möglicherweise auch spirituelle Aspekte enthält. Spirituelle Ressourcen oder Belastungen können aber auch mittels geeigneter, der Person angepasster Sprache direkt erfragt und exploriert werden.
Es kann bereits hilfreich für die Patientinnen und Patienten sein, wenn sie wahrnehmen, dass spirituelle Aspekte zur Sprache kommen dürfen und von der behandelnden Person validiert werden. Um spirituelle Aspekte darüber hinaus spezifisch in die Behandlung zu integrieren, werden vier Teilbereiche vorgeschlagen: die Berücksichtigung spiritueller Ressourcen in den Therapiezielen, die Exploration möglicher neuer spiritueller Ressourcen, Hilfestellung im Umgang mit belastenden Krankheitskonzepten und die Entfaltung hilfreicher Sprachbilder zusammen mit der Patientin oder dem Patienten.

Konklusion

In einem patientenzentrierten Behandlungsansatz bei chronischen Schmerzen können auch spirituelle Aspekte eine wichtige Rolle spielen. Der vorliegende Leitfaden zur Integration spiritueller Aspekte in die multimodale Schmerztherapie (LISA-S) ist eine konkrete Hilfestellung für Personen aller Gesundheitsberufe, welche die spirituelle Dimension in der Behandlung und Begleitung von Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen mitberücksichtigen möchten. Alle zum Leitfaden gehörenden Dokumente sowie die wissenschaftlichen Publikationen, die im Rahmen des SNF 74 zur spirituellen Dimension bei chronischem Schmerz entstanden, sind auf der Website www.spiritualcare-leitfaden.ch oder über diesen QR-Code zum Download frei verfügbar.

Interview mit Klaus Bally, Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel und Hausarzt in eigener Praxis bis 2018

Was sind ihre persönlichen Erfahrungen mit der Integration von spirituellen Aspekten in der Behandlung chronischer Schmerzen?
Eine langjährig tragfähige Beziehung zwischen den Betroffenen und den sie betreuenden Gesundheitsfachpersonen sowie eine biopsychosoziale Herangehensweise sind die Grundpfeiler der Betreuung dieser schmerzgeplagten Menschen. Allerdings verspüren sie zusätzlich zum physischen, seelischen und sozialen Schmerz häufig eine existenzielle Not; sie verzweifeln an ihren Schmerzen und stellen sich Sinnfragen. Wenn es mir in solchen Situationen gelungen ist, einen spirituellen Zugang zum kranken Menschen herzustellen, wurde dies immer wieder einmal als hilfreich und unterstützend erlebt.
Was ist Ihrer Ansicht nach der hauptsächliche Nutzen des Leitfadens?
Mehrfach konnte gezeigt werden, dass Hausärztinnen und-ärzte zwar die Berücksichtigung der spirituellen Dimension zur Bewältigung von Krankheit als wichtig erachten, dass sie sich in diesem Bereich aber zugleich sehr unsicher fühlen. Hier vermittelt der Leitfaden Ideen und Anregungen, wie spirituelle Bedürfnisse angesprochen und erfasst werden können.
Was braucht es auf individueller und systemischer Ebene, um die Integration spiritueller Aspekte in der Therapie von chronischen Schmerzen umzusetzen?
Alle an der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten beteiligten Gesundheitsfachpersonen sollten über gewisse Kompetenzen im Umgang mit spirituellen Fragestellungen verfügen. Zudem sollten in Institutionen der stationären Behandlung und auch im ambulanten Bereich Möglichkeiten geschaffen werden, entsprechend qualifizierte und erfahrene Fachpersonen beizuziehen.
Für das Projekt:
Karin Hasenfratz
Professur für Spiritual Care,
Universität Zürich
Kirchgasse 9
CH-8001 Zürich
karin.hasenfratz[at]uzh.ch
Für das Programm:
Heini Lüthy
Verantwortlicher Medienarbeit des NFP 74
Tössfeldstrasse 23
CH-8400 Winterthur
hl[at]hluethy.ch
1 Siddall PJ, Lovell M, MacLeod R. Spirituality: what is its role in pain medicine? Pain Med. 2015 Jan;16(1):51–60.
2 Balboni TA, VanderWeele TJ, Doan-Soares SD, Long KNG, Ferrell BR, Fitchett G, et al. Spirituality in serious illness and health. JAMA. 2022 Jul 12;328(2):184–197.
3 Peng-Keller S, Moergeli H, Hasenfratz K, Naef R, Rettke H, Hefti R, Ljutow A, Rittmeyer I, Sprott H, Rufer M. Including the spiritual dimension in multimodal pain therapy. Development and Validation of the Spiritual Distress and Resources Questionnaire (SDRQ). J Pain Symptom Manage. 2021 Oct;62(4):747–756. Available from: https://www.jpsmjournal.com/article/S0885-3924(21)00214-1/abstract
4 Do chronic pain patients wish spiritual aspects to be integrated in their medical treatment? A cross-sectional study of multiple facilities. Front Psychiatry. 2021 Jun 17;12:685158. Available from: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2021.685158/full
5 Rettke H, Naef R, Rufer M, Peng-Keller S. Spiritual Care und chronischer Schmerz: Die Sicht von Fachpersonen. Eine qualitative Untersuchung. Spiritual Care. 2021 Jan 18;10(1):42–52.

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