Geschlechterunterschiede in der kardiovaskulären Prävention

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2022/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2022.10543
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2022;22(07):208-210

Publiziert am 06.07.2022

Historisch wurde in der Medizin und insbesondere bei kardiovaskulären Erkrankungen – wie auch in anderen Bereichen der Gesellschaft – grundsätzlich der Mann als Norm betrachtet. Heute gelten Geschlechterunterschiede bei kardiovaskulären Erkrankungen als eine der am besten dokumentierten Geschlechterunterschiede in der Medizin. Doch was gilt es bei der Erforschung von Geschlechterunterschieden zu beachten? Dieser Artikel befasst sich mit biologischen, soziokulturellen und methodischen Aspekten der Forschung zu Geschlechterunterschieden am Beispiel der kardiovaskulären Prävention.

Das biologische und das soziokulturell bedingte Geschlecht: «Sex» und «Gender»

Perspektive Versorgungsforschung
Geschlechterunterschiede bestehen auf verschiedenen Ebenen: Bei der Entstehung, Prävention, Diagnose, Verlauf, Behandlung und Gesundheitsfolgen sowie bei der Nutzung von Gesundheitsdienstleistungen und der Risikoexposition [1]. Um Geschlechterunterschiede zu messen oder Gründe dafür zu ergründen, ist die Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht und dem soziokulturellen Geschlecht unabdingbar [2]. Während es im Deutschen keine eigene Terminologie dafür gibt, liefert die englische Sprache die eindeutigen Begriffe «Sex» (biologisches Geschlecht) und «Gender» (soziokulturell bedingtes Geschlecht). «Sex» und «Gender» können die Gesundheit unabhängig voneinander oder in Interaktion miteinander beeinflussen. Während «Sex» tendenziell eine grössere Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf von Krankheiten spielt, kann «Gender» vor allem die Risikoexposition, die Erkennung von Symptomen, den Zugang zur Gesundheitsversorgung und die Qualität der Versorgung beeinflussen [1].

Biologische Unterschiede

Die biologischen Geschlechterunterschiede sind auf die Geschlechtschromosomen zurückzuführen, welche für die Differenzierung der Gonaden und dadurch indirekt für die hormonellen Unterschiede verantwortlich sind. Diese wiederum bedingen einen Grossteil der Unterschiede in der Körperzusammensetzung und Physiologie von Frauen und Männern [3]. Ausserdem exprimieren Geschlechtschromosomen weitere Gene, die zu Geschlechterunterschieden in fast allen Organsystemen führen [1, 4].Bei kardiovaskulären Erkrankungen äussern sich die biologischen Unterschiede unter anderem in der unterschiedlichen Entwicklung mit dem Alter: Frauen sind vor der Menopause grösstenteils vor kardiovaskulären Erkrankungen geschützt. Gründe dafür sind noch nicht vollständig geklärt. Es werden kardioprotektive Eigenschaften von Östrogenen vermutet, was aber aufgrund randomisierter Studien angezweifelt worden ist [5]. Weiter haben einige Risikofaktoren unterschiedliche Auswirkungen bei Frauen und Männern: So sind zum Beispiel Diabetes und Rauchen bei Frauen mit einem höheren relativen Risiko für Herzkrankheiten assoziiert als bei Männern [1]. Ausserdem gibt es Geschlechterunterschiede in der Wirkung von Medikamenten aufgrund von Unterschieden in der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik [3]. Frauen haben häufiger Nebenwirkungen, zum Beispiel auf cholesterinsenkende Statine, die in der kardiovaskulären Prävention zur Anwendung kommen [6].

Soziokulturell bedingte Unterschiede

Obwohl kardiovaskuläre Erkrankungen sowohl bei Männern wie auch bei Frauen die führende Todesursache sind [7], besteht auch heute noch die falsche Wahrnehmung – sowohl bei Patientinnen und Patienten wie auch bei Klinikerinnen und Klinikern – von kardiovaskulären Erkrankungen als vorwiegend männliche Pathologien. Das ungenügende Bewusstsein über das kardiovaskuläre Risiko bei Frauen erklärt wahrscheinlich teilweise, weshalb Cholesterinwerte bei Frauen weniger oft gemessen werden als bei Männern mit gleichem kardiovaskulärem Risiko (Abb. 1, obere Grafiken), dass ihre Cholesterinwerte schlechter sind (Abb. 1, untere Grafiken), und dass sie weniger intensiv medikamentös therapiert werden [8]. Ausserdem werden ­Frauen später behandelt und haben schlechtere Überlebenschancen nach einem Herzinfarkt. Dies ist vermutlich zumindest teilweise darauf zurückzuführen, dass Herzinfarkte als typisch männliche Erkrankungen wahrgenommen werden und bei Frauen deshalb schlechter detektiert werden [9].
Abbildung 1: 
Altersverlauf des Anteils Patientinnen respektive Patienten mit gemessenen Cholesterinwerten im Jahr 2018 (oben), und die gemessenen Cholesterinwerte (unten), in der Primärprävention (links, Frauen  n = 29'967, Männer n = 26 727), respektive Sekundarprävention (rechts, Frauen n = 696, Männer n = 1702). Basierend auf Daten aus elektronischen Krankengeschichten von 62 Hausarztpraxen. Adaptiert von Atherosclerosis, Vol 234, Rachamin Y, Grischott T, Rosemann T, Meyer MR, Inferior control of low-density lipoprotein cholesterol in women is the primary sex difference in modifiable cardiovascular risk: A large-scale, cross-sectional study in primary care, P141-147, © 2021 The Authors. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Elsevier B.V.
Abkürzungen: LDL-Cholesterin = Low Density Lipoprotein Cholesterin.

Herausforderungen in der Forschung

Zuordnung des Effekts

Bei der Erforschung von Geschlechterunterschieden ist es zunächst einmal wichtig, dass «Sex» und «Gender» richtig benennt und differenziert werden, was häufig noch nicht konsequent gemacht wird [2]. Jedoch selbst wenn die korrekte Terminologie besteht, ist es oft nicht möglich, die Effekte eindeutig zu trennen. Gerade bei der Erforschung der Versorgungsqualität ist es schwierig mit Sicherheit zu bestimmen, was der Effekt von «Sex» und was der Effekt von «Gender» ist. Ein ­Beispiel bietet die oben erwähnte suboptimale Statin­behandlung bei Frauen: Dass Frauen seltener mit Statinen behandelt werden, liegt zum einen wahrscheinlich teilweise daran, dass die Therapie aufgrund von Nebenwirkungen bei Frauen häufiger abgesetzt wird, zum anderen aber auch daran, dass ihnen aufgrund fehlender Risikowahrnehmung (soziokulturell bedingt) seltener ein Statin verschrieben wird [6, 10].

Unterrepräsentation in Studien

Ein weiterer Aspekt, der sowohl die Erforschung von Geschlechterunterschieden als auch die adäquate ­Behandlung von Frauen erschwert, ist die fehlende­Evidenz für die Behandlung von Frauen. Frauen waren historisch in klinischen Studien untervertreten. Obwohl es Verbesserungen in diesem Bereich gibt, sind Frauen in kardiovaskulären Studien, insbesondere zu Herzinsuffizienz, koronarer Herzkrankheit oder lipidsenkenden Medikamente, immer noch unterrepräsentiert [11, 12]. Die Gründe für die Unterrepräsentation von Frauen in klinischen Studien sind mannigfaltig. Unter anderem wurde aufgrund der hormonellen Schwankungen bei Frauen eine höhere Variabilität (z.B. von Arzneimittelwirkungen) befürchtet [13]. Lange wurden besonders Frauen im gebärfähigen Alter konsequent aus Studien ausgeschlossen, aus Angst um ihre Gesundheit und der ihres potenziellen Nachwuchses [14]. Bei koronarer Herzkrankheit kommt hinzu, dass Frauen diese ca. 6–8 Jahre später entwickeln als Männer und wegen des fortgeschrittenen Alters häufig bereits mehrere Komorbiditäten aufweisen, aufgrund derer sie aus klinischen Studien ausgeschlossen werden [3]. Ausserdem wurden lange die Einschlusskriterien oftmals auf das männliche Krankheitsbild aus­gerichtet, so zum Beispiel bei der Herzinsuffizienz (verminderte Auswurffraktion) [15]. Dazu kommen noch «Gender»-Aspekte, die mit der Studienteilnahme verbunden sind: Frauen haben zum Beispiel häufiger einen niedrigen ökonomischen Status, was wiederum mit einer tiefen Studienteilnahme assoziiert ist [15].

Wir wissen nur, was gemessen wird

Wenn es darum geht, die Behandlungsqualität von Frauen und Männern anhand von Routinedaten zu vergleichen, sind wir darauf angewiesen, dass die dazugehörigen Indikatoren gemessen werden. Wie oben beschrieben, wird aber bei Frauen in der kardiovaskulären Prävention zum Beispiel seltener das Cholesterin gemessen. Was ist nun mit den Frauen ohne gemessenen Cholesterinwert? Wenn etwas nicht gemessen wird, kann es nicht studiert werden. Dies gilt analog auch für die klinische Praxis. Zur adäquaten kardiovaskulären Prävention muss das Risikoprofil der Patientin respektive des Patienten bekannt sein, welches unter anderem auf dem Cholesterinwert basiert. Wenn es also Geschlechterunterschiede in der Risikobestimmung (sprich: in der Messung des Cholesterins) gibt und dadurch potenzielle Risiken verpasst werden, ist dies ein erster Schritt zur suboptimalen Behandlung [8, 16].

Methodologische Erwägungen

Um die Datengrundlage zu Geschlechterunterschieden zu verbessern, wird von einigen Förderstellen gefordert, dass Forschende die Auswirkungen von «Sex» und «Gender» auf Gesundheitsfolgen, Gesundheitsversorgung etc. untersuchen (unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Europäischen Kommission) [2]. Obwohl das im Grundsatz zu begrüssen ist, ist Vorsicht bei der Interpretation geboten, wenn die Daten ohne angemessene Adjustierung nach Geschlecht aufgeschlüsselt werden. Wenn alle Studienresultate nach Geschlecht stratifiziert werden, steigt das Risiko eines Fehlers vom Typ I, also dass statistische Geschlechterunterschiede detektiert werden, die es in Wahrheit gar nicht gibt (falsch positive Befunde) [4]. Eine Analyse von Cochrane Metaanalysen aus dem Jahr 2016 kam zum Schluss, dass die beobachteten statistisch signifikanten Interaktionen zwischen Geschlecht und Behandlung nur geringfügig häufiger ­waren als zufällig zu erwarten wäre, und es kaum Hinweise auf klinische Relevanz gab [17]. Angesichts des historisch fehlenden Interesses an Geschlechterunterschieden ist der Mangel an Beweisen jedoch nicht unbedingt als Beweis für das Fehlen von Geschlechterunterschieden zu verstehen (falsch negative Befunde) [4].

Ausblick

Die Wichtigkeit der Inklusion von Frauen (und weiblichen Tieren) in Studien ist wohl unbestritten. Idealerweise sollte das Geschlecht während dem gesamten Forschungsprozesses berücksichtigt werden, von der Formulierung der Forschungsfrage bis zur Interpre­tation der Studienergebnisse [14]. Dabei sollten die Resultate, wenn möglich, nach Geschlecht stratifiziert werden, jedoch unter Wahrung der gängigen wissenschaftlichen Prinzipien: Hypothesen sollten im Voraus festgelegt werden, um datengesteuerte Hypothesentests (sich selbst erfüllende Prophezeiungen) zu vermeiden; Überraschungsresultate sollten als solche präsentiert werden; und dem Einfluss von Störfaktoren (sogenanntes «Confounding») muss Rechnung ge­tragen werden [4]. Darunter fallen zum Beispiel Risikofaktoren wie Rauchen, Diabetes, Bluthochdruck etc., welche bei Frauen und Männern nicht gleich oft vorkommen. Letztlich sollte auch der Einfluss von Mediatoren (wie zum Beispiel Hormonstatus, Körpergrösse oder Gewicht) nicht vergessen werden [4]. Diese Aspekte sind vor allem auch vor dem Hintergrund der aufstrebenden Analyse von grossen Datensets («Big Data»-Analysen) wichtig, da bei diesen aufgrund der grossen Beobachtungszahl schnell statistisch signifikante aber klinisch irrelevante Unterschiede auftauchen und zudem häufig die Variablen zur Adjustierung und Kontextualisierung der Resultate (Confounder, Mediatoren) fehlen [4].Schlussendlich ist noch der Zusammenhang der geschlechtsspezifischen Medizin mit der personalisierten Medizin oder Präzisionsmedizin zu erwähnen. ­Präzisionsmedizin beruht auf der Annahme, dass Individuen eine auf ihre (molekularen, physiologischen, umweltbedingten) Eigenschaften massgeschneiderte Therapie anstelle der bisherigen Standardbehandlung bekommen sollten [18]. Das Geschlecht bedingt diese Eigenschaften mit. Es kann also argumentiert werden, dass die Berücksichtigung von Geschlecht eine Voraussetzung für die personalisierte Medizin ist [14]. Daher sollte also mit dem Aufschwung der personalisierten Medizin oder Präzisionsmedizin also eigentlich auch die geschlechtsspezifische Medizin an Bedeutung gewinnen.
Yael Rachamin, PhD
Institut für Hausarzt­medizin
Universität Zürich und Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
yael.rachamin[at]usz.ch
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