Herausfoderungen in der Pflege von multimorbiden älteren ­Menschen
Forschungsprojekt zu integrierten Versorgungsmodellen: INSPIRE

Herausfoderungen in der Pflege von multimorbiden älteren ­Menschen

Offizielle Mitteilungen
Ausgabe
2018/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01732
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(06):96-98

Affiliations
a Institut für Pflegewissenschaft, Departement Public Health, Universität Basel; b Department of Chronic Diseases, Metabolism and Ageing, University of Leuven, Belgium; c Department of Public Health and Primary Care, University of Leuven, Belgium

Publiziert am 21.03.2018

Integrierte Versorgungsmodelle sind eine wichtige Antwort auf die aktuellen Herausforderungen in der Versorgung von älteren Menschen mit komplexen Gesundheitsproblemen, um Koordinationsproblemen zu begegnen und Allgemeinpraktiker zu unterstützen. Pflegende in Advanced Practice-Rollen sind ein integraler Bestandteil solcher Modelle. Um die Evidenz zu integrierten Versorgungsmodellen nachhaltig im Schweizer Gesundheitssystem einfügen zu können, braucht es Implementationsforschungsprojekte – ein solches Projekt ist INSPIRE.
Ältere Menschen sind mit verschiedenen Gesundheitsproblemen konfrontiert, und Mulitimorbidität, chronische Erkrankungen und funktionale Einschränkungen erhöhen die Abhängigkeit von Langzeitpflege [1]. Trotz der Tendenz zu länger anhaltender Gesundheit nimmt die Komplexität der Gesundheitsprobleme zu, was den Bedarf nach interprofessioneller Versorgung in allen Settings erhöht. Eine fehlende ­Koordination unter den Leistungserbringern riskiert jedoch eine fragmentierte Versorgung mit entsprechenden Konsequenzen: Wiederholungen von oder ­Lücken in Dienstleistungen, widersprüchliche Behandlungsempfehlungen, Medikationsfehler, Stress für die älteren Menschen und ihre Angehörigen und höhere Kosten aufgrund unnötiger Hospitalisierungen oder anderer Dienstleistungen [2]. Dementsprechend sind neue, integrierte Versorgungsmodelle gefragt, die sich an Bedarf und Nutzen für die Patienten orientieren [3]. Die WHO Europa sieht in der integrierten Versorgung ein bevölkerungszentriertes Gesundheitssystem, das umfassend Qualitätsdienstleistungen erbringt, welche die multidimensionalen Bedürfnisse der Bevölkerung und Individuen decken und von einem koordinierten, multidisziplinären Team erbracht werden [4]. Dabei lassen sich drei Ebenen von integrierten Versorgungsmodellen unterscheiden:
1) Individuelle Modelle wie zum Beispiel Case Management oder individuelle Versorgungsplanungen;
2) Gruppen- oder krankheitsspezifische Modelle wie beispielsweise das Chronic Care Model oder integrierte Modelle spezifisch für ältere Menschen;
3) Bevölkerungsbasierte Modelle, wie sie zum Beipsiel von Kaiser Permanente oder der Veterans Health Administration in den USA angeboten werden [5].
Das Besondere an Kaiser Permanente ist, dass sie die ­Bevölkerung auf ­Basis ihrer Gesundheitsbedürfnisse in vier Gruppen stratifizieren (Prävention für Gesunde, ­Unterstützung im Self Management für chronisch ­Erkrankte, Krankheitsmanagement für Hochrisiko­patienten und Case Management für Pa­tienten mit schweren Komplikationen), und dass alle Dienstleister gemeinsam für positive Patientenergebnisse und die Patientenzufriedenheit verantwortlich sind. Für ihren Erfolg haben sie unter anderem Pflegenden neue Profile gegeben [5].
Eine kürzliche Cochrane Review über den Nutzen vom Management von Personen mit Multimorbidität in der Primärversorgung, die vor ­allem Case Management-Modelle und Modelle mit erweiterten multidisziplinären Teams einschloss, zeigte erste Evidenz für eine ­Verbesserung der psychischen Gesundheit, patientenrapportierten Ergebnissen, Medikationsadhärenz und Gesundheitsverhalten [6].

Einsatz von spezialisierten ­Pflegefachpersonen

Im 2007 hat ein Obsan-Bericht den Einsatz von nichtärztlichen Berufsleuten als eine Lösung von Zugangs- und Verteilungsproblemen sowie zur Unterstützung der Allgemeinpraktiker vorgeschlagen, mit dem Potenzial für Kostenreduktion [7]. Insbesondere der ­Einsatz von spezialisierten Pflegefachpersonen wie Advanced Practice Nurses (APN) resp. Nurse Practitioners (NP) mit dem Fokus auf die Betreuung chronisch Kranker ist in angelsächsischen Ländern seit Jahrzehnten etabliert [7–9]. In der Schweiz hat das Institut für Pflegewissenschaft (INS) der Universität Basel als erstes im 2012 eine NP-Ausbildung etabliert. Ein fundiertes Training von erweiterten klinischen Kompetenzen ist eine zentrale Voraussetzung für die Ausdehnung des Verantwortungsgebietes der APN. Verschiedene systematische Übersichtsarbeiten zeigen, dass APN mit einer entsprechenden Ausbildung alleine oder in inter­professionellen Teams gleichwertige klinische und Prozessergebnisse erreichen wie reine Ärztemodelle [8, 10–23]. Die Evidenz bezüglich Kosten ist noch unschlüssig und braucht rigorosere Studien.

Was ist notwendig, um Evidenz neu in ein Gesundheitssystem einzuführen?

Die Erfahrung zeigt, dass eine als effizient erwiesene Massnahme ungefähr 17 Jahre braucht, um im Gesundheitswesen nutzbringend umgesetzt zu werden, wobei nur ein Drittel der Evidenz überhaupt implementiert wird. Um die Wertschöpfungskette zwischen Forschung und Praxis zu stärken, braucht es Forschung, die aufzeigt, wie eine Massnahme nachhaltig im ­Gesundheitssystem implementiert werden kann und wie Barrieren zur Implementation auf den Ebenen von Pa­tient, Gesundheitspersonal, Leistungserbringer und Policy angegangen werden können [24].
Das INS führt im Moment zwei Implementationsforschungsprojekte zu integrierten Versorgungsmodellen durch: INSPIRE (Durchführung eines gemeindebasierten Versorgungsprogramms für Seniorinnen und Senioren im Kanton Basel-Landschaft, ein integriertes Versorgungsmodell für ­ältere Menschen; Abb. 1) und INTERCARE (pflegegeleitete Versorgungsmodelle in Schweizer Pflegeinstitutionen: Verbesserung der interprofessionellen Pflege für bessere Bewohner-Ergebnisse; Abb. 2), ein gruppenspezifisches Modell für ältere Menschen in Pflegeheimen, das an einer anderen Stelle vorgestellt wurde [25].
Abbildung 1: INSPIRE, ein gemeindebasiertes Versorgungsprogramm für Seniorinnen und Senioren im Kanton ­Basel-Landschaft. https://nursing.unibas.ch/de/forschungsprojekte/forschung/forschung/inspire .
Abbildung 2: INTERCARE (University of Basel), a nurse-led interprofessional NH care model: improving INTERprofessional CARE for better resident outcomes. https://nursing.unibas.ch/de/forschungsprojekte/forschung/forschung/intercare .
INSPIRE ist ein interprofessionelles Projekt des Departements für Public Health der Universität Basel (INS, Swiss TPH, Basel Institut für Klinische Epidemiologie & Biostatistik, Institute of Pharmaceutical Medicine, Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit, ­Institut für Hausarztmedizin), das mit dem Kanton ­Basel-Landschaft zusammen die Herausforderungen der zunehmend alternden Bevölkerung angehen will und von 2017 bis 2020 läuft. Der Kanton Basel-Landschaft ist mit einem raschen Anstieg der älteren Bevölkerung konfrontiert. Die Bevölkerungsgruppe im Alter 80+ wird zwischen 2013 und 2040 um 79% zunehmen. Auf politischer Ebene hat der Kanton mit einem neuen ­Altersbetreuungs- und Pflegegesetz bereits die Grundlagen für ein neues Versorgungsmodell gelegt, das den Kanton in Versorgungsregionen aufteilt, mit je einer pflegegeleiteten Informations- und Beratungsstelle. INSPIRE hat zum Ziel, ein integriertes Versorgungsmodell für ältere Menschen im Kanton Basel-Landschaft zu entwickeln und zu implementieren sowie die Ergebnisse der Implementation auf der Ebene der Betroffenen, der Leistungserbringer und des Gesundheits­systems mit Implementationsforschungsmethoden zu evaluieren. Dazu gehört auch der Einbezug von allen Stakeholdern und das sorgfältige Klären und Angehen von Barrieren für die Umsetzung. Im integrierten Versorgungsmodell wird eine APN der Informations- und Beratungsstelle verschiedene Leistungsbringer vernetzen. Sie wird zum Beispiel analog zu Kaiser Permanente die Klientinnen und Klienten in verschiedene Risikokategorien triagieren, entsprechend ihrer gesundheitlichen und sozialen Risiken. Während es bei älteren Menschen mit tiefem Risiko um gesundes Altern und Prävention von Frailty und bei denjenigen mit mittlerem Risiko um die Prävention von Komplikationen mit pflegegeleitetem Follow-up geht, können Patienten mit hohem Risiko von einem interprofessionellen Case Management profitieren.

Zusammenfassung

Es lässt sich sagen, dass die bisherige Evidenz zur integrierten Versorgung von älteren Menschen ersten ­Nutzen zeigt. APNs sind ein integraler Bestandteil von integrierten Versorgungsmodellen, und ihr Einsatz bringt gleichwertige Ergebnisse zu reinen Ärztemodellen mit sich. Um die Evidenz in die Praxis umzusetzen und die Wertkette auszuschöpfen, braucht es Implementationsforschungsprojekte, die helfen, Barrieren zu identifizieren und Evidenz kontextrelevant und nachhaltig in die alltägliche Realität zu übersetzen. Mit INTERCARE und INSPIRE werden in der Schweiz zwei integrierte Versorgungsmodelle erprobt. Die Resultate werden die Weiterentwicklung und Ausdehnung von solchen Modellen unterstützen.
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag von Sabina de Geest unter dem Titel «Challenges in the long-term care of multi-morbid older people», den sie am Health Symposium der SGAIM vom 8. Dezember 2017 in Bern gehalten hat. Das erstmals durchgeführte Health Symposium, an dem ca. 50 Personen aus verschiedenen Bereichen teilnahmen, widmete sich dem Thema Multimorbidität. Herausforderung für Medizin und Gesellschaft. Die SGAIM möchte mit dieser neu lancierten Veranstaltung einen Beitrag zur vertieften Diskussion aktueller Themen in der Gesundheitsversorgung leisten.
Die Präsentationen zu den Referaten können unter www.sgaim.ch/healthsymposium heruntergeladen werden.
Bruno Schmucki
Kommunikation, SGAIM
Schweizerische Gesellschaft
für Allgemeine ­Innere ­Medizin
Monbijoustrasse 43
Postfach
CH-3001 Bern
bruno.schmucki[at]sgaim.ch
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